Invokavit. Vor genau 500 Jahren war es Martin Luther, der es nicht mehr aushalten konnte und den es nach 10 Monaten in seinem Versteck und Asyl auf der Wartburg nicht mehr gehalten hat. Er verlässt die Burg am 1. März 1522 und kehrt nach Wittenberg zurück ungeachtet der Gefahr, in die er sich begibt, besteigt wenige Tage später die Kanzel. Es ist der Sonntag Invokavit. Acht Tage lang hat er jeden Tag eine Predigt gehalten, die als Invokavitpredigten überliefert wurden – und das wichtigste daran war vielleicht nicht einmal, was er gesagt hat, sondern dass er die Dinge in die Hand genommen hat, dass er gezeigt hat, dass er lebt, dass er kein gebrochener Mann war, sondern zur Sache geredet hat – wie jetzt der ukrainische Präsident – Es ging vor 500 Jahren darum, Dinge zurechtzubringen, die aus dem Ruder gelaufen waren, und die Gemeinde zu festigen. – Luthers Worte zur Sache haben damals ihre Wirkung nicht verfehlt.
Nun haben wir heute wieder den Sonntag Invokavit, versammeln uns hier und anderswo als christliche Gemeinde zum Gottesdienst, zum Gebet und zum Hören auf Gottes Wort, ob es uns etwas zu sagen hätte. Auch wir versammeln uns in einer besonderen Situation: Krieg in der Ukraine. Kiew ist nicht ganz 2000 Kilometer östlich von uns, ungefähr so weit wie Madrid oder Sizilien, aber in die andere Richtung. Das betrifft uns und bedrückt uns. Flüchtende kommen auch nach Deutschland. Geht es uns an?
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 2. Korintherbrief, Kapitel 6,1-10, wo Paulus den Korinthern ins Gewissen redet und schreibt:
1Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. 2Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; 4sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, 5in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; 10als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.
… in allem erweisen wir uns als Diener Gottes … Was heißt das heute? Was heißt es heute, ein Christ zu sein?
Die Legende von Christophorus ist mir in den Sinn gekommen, die in früheren Zeiten sehr populär war. Ich kenne sie noch aus der Grundschule, aber ihre Beliebtheit geht weit zurück bis ins Mittelalter. Den Namen Christophorus, Christusträger, hat er nicht von Anfang an getragen. Die Legende wird in der Legenda aurea [1] so erzählt, dass er von gewaltiger Größe war, mit einem furchtbaren Angesicht, den es zuhause nicht gehalten hat und der den mächtigsten König suchen wollte, um bei ihm zu bleiben. Eines Tages aber sang vor dem König ein Spielmann ein Lied, darin des Teufels Name gar oft genannt war. Da nun der König ein Christ war, zeichnete er seine Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes, so oft des Teufels Name genannt war. – Christophorus fragt nach, der König weicht aus und gibt schließlich zu: „Wann ich den Teufel höre nennen, so segne ich mich mit diesem Zeichen; denn ich fürchte, dass er sonst Gewalt gewinne über mich und mir schade.“ Da trennen sich ihre Wege. Es gibt einen Mächtigeren als den König. Christophorus sucht nun den Teufel, findet einen Ritter wild und schrecklich anzusehen, und begibt sich in seinen Dienst. Ich suche den Herrn den Teufel denn ich wäre gern sein Knecht. Sprach der Ritter »Ich bin der, den du suchst… «
Wir sehen einen Menschen auf der Suche, wem er dienen möchte. Ein einziges Leben haben wir, und es ist nicht egal, wem wir es widmen, wem wir dienen. Die Christophoruslegende erzählt von einem Menschen auf der Suche nach einer Herausforderung, die es wert ist, dass er sich ihr stellt, und er gerät bei seiner Suche an den Teufel, an den Bösen, das Böse.
Da sie nun mit einander dahin zogen, kamen sie einst auf eine Straße, da war ein Kreuz am Wege erhöhet. Alsbald der Teufel das Kreuz sah, floh er voll Furcht und ließ die Straße und führte Christophorus zur Seite einen rauen und wüsten Weg, und darnach wieder zu der Straßen.
Der Teufel ist hier der, der auf Abwege führt und der einen Bogen um das Kreuz macht. Christophorus spürt, dass etwas nicht stimmt und gibt sich nicht zufrieden, bis er die Wahrheit erfährt.
Es ist ein Mensch gewesen, Christus mit Namen, den hat man ans Kreuz geschlagen; und so ich dieses Kreuzes Zeichen sehe, so fürchte ich mich sehr und muss es fliehen. – Sprach Christophorus »So ist dann jener Christus größer und mächtiger denn du, so du sein Zeichen so sehr fürchtest«
Er gibt dem Teufel Lebewohl und sucht lange Zeit, ob ihm jemand von Christus möchte Kunde geben. Zuletzt kam er zu einem Einsiedler, der predigte ihm von Christus und unterwies ihn mit Fleiß im Glauben. Und sprach zu Christophorus »Der König, dem du dienen willst, begehrt, dass du viel fastest«. Christophorus antwortete: »Er fordere von mir ein ander Ding, denn dies vermag ich nicht zu tun«. Sprach der Einsiedler »Es ist not, dass du viel betest«. Antwortete Christophorus »Ich weiß nicht, was das ist, und kann ihm darin nicht folgen«
Fasten und Beten ist also wohl christlich, aber vielleicht nicht jedermanns Sache, und Christophorus muss es nicht lernen, muss sich nicht mit 7 Wochen ohne befassen und nicht einmal das Vaterunser lernen.
Der Einsiedler sagt ihm: »Weißt du den Fluss, darin viel Menschen umkommen, so sie hinüber wollen fahren>?« Antwortete Christophorus »Ja, ich weiß ihn«. Und der Einsiedler sprach »Du bist groß und stark: setze dich an den Fluss und trage die Menschen dahinüber, so wirst du Christus dem Könige gar genehm sein, dem du zu dienen begehrst; und ich hoffe, dass er sich dir daselbst wird offenbaren«. Sprach Christophorus: »Das vermag ich wohl und will ihm hierin dienen«. Also ging er zu dem Fluss und baute sich am Ufer eine Hütte. Er nahm eine große Stange in seine Hand statt eines Stabes, darauf stütze er sich im Wasser und trug die Menschen alle hinüber ohn Unterlass.
*
In allem erweisen wir uns als Diener Gottes, schreibt Paulus, und zählt auf, was ihm alles widerfahren ist und widerfährt, ein langer Katalog: in großer Geduld, in Bedrängnissen,… Alles nimmt er in Kauf um dieses Dienstes willen. … in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten … Als die Sterbenden, und siehe, wir leben.
Es ist gut, liebe Gemeinde, wenn wir wissen, was wir tun müssen, wenn wir uns nicht zu sehr mit unseren Ängsten und Sorgen und Befürchtungen befassen, nicht zu sehr mit Fitnesstraining, Freizeitprogramm, Work-Life-Balance, nicht zu sehr mit uns selbst, sondern mit dem, was wir tun können.
Der Einsiedler hat Christophorus als erstes empfohlen zu fasten. – Und wer nun sieben Wochen bis Ostern – oder für die Dauer des Krieges oder für irgendeine Not fasten kann, der soll das tun! 7 Wochen ohne – in Solidarität mit den Menschen, die nun den Krieg erleiden oder in Solidarität mit den Menschen, die hungern. Wer nicht fasten kann, kann etwas anderes.
Beten. Friedensgebete halten, zu Friedensgebeten gehen. Und vielleicht werden auch Solidaritätskonzerte zu Gebeten! Vielleicht kann man sein Inneres nach außen kehren und zeigen, dass man nicht unberührt ist von dem, was man erfährt. Herr, erbarme Dich! Kyrie eleison! Und stets ist das Gebet eine Haltung, eine innere Zwiesprache, ein Reden des Herzens, wie Luther sagt. Aber wer nicht beten kann, kann etwas anderes.
Spenden, Hilfsbereitschaft zeigen! So wie Christophorus den Menschen über den Fluss geholfen hat, können wir den Menschen, die hier ankommen, in ein neues Leben helfen. Vielleicht können wir nur wenig tun, aber zumindest wie Christophorus und wie Paulus können wir unterwegs sein mit der Frage, wem wir dienen, bis wir den Platz gefunden haben, an dem wir gebraucht werden.
Die Christophorus-Legende geht so weiter, dass ein Kind ihn ruft, das er zunächst gar nicht gesehen hatte. Erst als es zum dritten Mal ruft, nimmt er es wahr. Christophorus nahm das Kind auf seine Schulter, ergriff seine Stange und ging in das Wasser. Aber siehe, das Wasser wuchs höher und höher, und das Kind ward so schwer wie Blei. Je weiter er schritt, je höher stieg das Wasser, je schwerer ward ihm das Kind auf seinen Schultern; also dass er in große Angst kam, und fürchtete, er müsste ertrinken. Und da er mit großer Mühe durch den Fluss war geschritten, setzte er das Kind nieder und sprach »Du hast mich in große Gefahr gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen«. Das Kind antwortete »Des sollst du dich nicht verwundern, Christophorus; du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Denn wisse, ich bin Christus, dein König, dem du mit dieser Arbeit dienst.«
„Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört“ heißt es im Talmud.
Ich denke, nur das hilft uns in dieser Gefahr, in der wir heute stehen und in der die Welt heute steht, dass wir unseren Dienst nicht verlassen, dass wir uns ansprechbar zeigen und unsere Antwort geben, sei es im Fasten, im Beten, im Handeln.
Zum Schluss möchte ich an den Anfang des Predigttextes erinnern, der lautete:
Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Tag des Heils? Ist das nicht zynisch?
Nein. Wenn im Unheil dieser Welt ein Licht aufscheint, wenn es so sein kann, dass Menschen nicht nur Verzweiflung empfinden, sondern Aufatmen, Erleichterung, Frieden im Kleinen, wenn etwas Aussicht hat auf Heilung, sodass man von einem Tag des Heils wieder sprechen könnte, dann ist es nicht zynisch. Um das lasst uns bitten und dafür lasst uns handeln. Amen.
[1] Die Legenda aurea des Thomas von Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. 1955 Lambert Schneider, 111993, S. 498ff