Alles, was Recht ist!

Predigt zum 3. So. n. Trinitatis beim Kurparkfest Bad Sebastiansweiler

Predigttext: Jona 3,10-4,11

10Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Jonas Unmut und Gottes Antwort

1Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig 2und betete zum Herrn und sprach: Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. 3So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. 4Aber der Herr sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst?

5Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. 6Gott der Herr aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus.

7Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus, dass er verdorrte. 8Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben.

9Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. 10Und der Herr sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, 11und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?


Wandmalerei Kilianskirche Bissingen an der Enz

Alles, was Recht ist. Gottes überraschende Barmherzigkeit



Liebe Gemeinde hier beim Kurparkfest Bad Sebastiansweiler,

wer diese Geschichte aufgeschrieben hat, wissen wir nicht. Erzählt wird in der 3. Person von Jona, Gott und Ninive. Ninive: Sodom und Gomorra! Babylon Berlin! Paris, New York und Amsterdam macht keinen Unterschied! Mannheim, München, Stuttgart brauchen sich nichts einzubilden! Die sind auch nicht besser …

Das weiß Jona und denkt: „Bei Gott! Jemand sollte mal etwas sagen!“ Aber er ist halt auch nicht besser, und sowieso, er wollte schon längst mal eine Kreuzfahrt nach Tarsis machen. Dort ist die Welt noch in Ordnung.

Jona haut ab. Es holt ihn ein. Gott holt ihn ein, und dann predigt er eben in Gottes Namen, aber deutlich, predigt den Leuten, was die Stunde geschlagen hat: „Last Generation!“ Noch 40 Tage bis zum Untergang! Alles, was Recht ist, so kann’s nicht weitergehen! So wird’s nicht weitergehen!

Womit er nicht gerechnet hatte: Die Leute nehmen es sich zu Herzen. Sie machen nicht einfach weiter, sie halten inne!

Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Gottes überraschende Barmherzigkeit

An dieser Stelle, liebe Gemeinde, ist etwas Unglaubliches festgehalten, nämlich dass Gott nicht unumstößlich der konsequente Vollzieher von Recht und Gerechtigkeit ist, der zornige Rächer der menschlichen Schwächen, Unvernunft, Schuld, Bosheit, der dafür sorgt, dass es kein Entrinnen gibt und der Mensch die Konsequenzen seines Handelns zu spüren bekommt. Gottes Barmherzigkeit kommt zum Vorschein. Aber Gott ist auch nicht, wie heutzutage beliebt, einfach der Behüter und Beschützer der Menschen, egal, was er da beschützen und behüten soll.

Hier in der Jona-Geschichte ist beschrieben, dass Gott überdenkt und es nicht so weit kommen lässt, wie es kommen müsste.

Da reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und er tat’s nicht.

Damit kommt Jona nicht zurecht. Er hatte den Untergang angekündigt und möchte nun sehen, was passiert, und als nichts passiert, macht er Gott sogar Vorwürfe.

Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. 3So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben.

Jona im Selbstmitleid. (Wenn kein Mensch Mitleid hat, muss man sich wohl selbst bedauern!)

Dann kommt die Geschichte mit dem Rizinus, wunderbar erzählt.

Gott der Herr aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus.

Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus, dass er verdorrte. 8Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben.

Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. Und der Herr sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?

So endet die Geschichte, so endet das ganze Büchlein Jona, und man weiß am Ende nicht, wie sie weitergeht, was aus Jona wird, ob er wieder nach Hause geht oder nach Ninive oder noch einmal nach Tarsis. Wahrscheinlich ist das gar nicht so wichtig.

Überhaupt…

Geht es in dieser Geschichte um Jona oder um Ninive oder um Gott? Oder ist alles ineinander verwoben? Um wen oder was geht es?

Um wen oder was geht es, wenn wieder irgendjemand sagt: So geht es nicht! Alles, was Recht ist!

  • Das sagt im Parlament die Opposition und
  • das sagt die Gewerkschaft, wenn sie einen neuen Tarif will,
  • das heißt es in Betrieben und Familien, in Schulen und Behörden:

So geht es nicht! Alles, was Recht ist!“

Aber wie geht es dann und worum geht es überhaupt?

Der letzte Satz lässt ahnen, es geht um die Menschen und auch um die Tiere, es geht um das Leben und Weiterleben und Überleben und nicht um das Vernichten und Zerstören.

Aber es geht auch um Jona und um jeden einzelnen Menschen für sich, um uns – mit unseren Geschichten von Vater und Mutter, mit unseren Geschichten des Alltags, unseren Aufbrüchen und unseren Anläufen, ums Scheitern und Erfolg haben, um alles, was Recht ist und über das hinaus, was Recht ist. Und wenn es um Jona und um uns geht, dann auch darum, dass Jona lernen muss, dass es nicht nur um ihn geht und wir lernen müssen, dass es nicht nur um uns geht!

Aus der Gegend von Ninive hatten wir in unserer Nachbarschaft ein Flüchtlingsfamilie, Vater, Mutter, drei Kinder: Adil, Anous, Hadi, Hiba, Gina. Eines Tages waren sie weg. Die Behörden hatten festgestellt, dass sie zu Unrecht hier waren. Alles, was Recht ist! Ihr seid zu Unrecht hier! Sie waren über Holland gekommen. Dort sollen sie bleiben. Abgeschoben! Wir haben sie dann einmal in Holland besucht, in Amsterdam, und geschaut, wie es ihnen ge ht. Es warein wunderschönes Wiedersehen.

Es ist, als spräche Gott heute zu uns Europäern, die wir im Schatten sitzen und klagen, weil so viele Krisen sind; als spräche Gott: …und mich sollte nicht jammern der Flüchtlinge, 100 Millionen weltweit, die nicht wissen, wohin; dazu auch das Leiden der der ganzen Schöpfung? Alles, was Recht ist! Was ist Recht?

In dieser Geschichte ist Gott barmherzig. Barmherzig! Nicht unbeteiligt, nicht unberührt, nicht schwach. Gott ist barmherzig, weil er barmherzig sein will!

Aber der Mensch tut sich schwer mit Barmherzigkeit. Der Mensch sagt: Alles, was Recht ist.

Welches Recht hat denn der Mensch?


Das Jonabüchlein endet so, dass der Mensch sich ein Beispiel nehmen soll an Gottes Barmherzigkeit. Vielleicht könnte es in diesem Sinn einmal so weit kommen, dass der Mensch sein vermeintliches Recht nicht nur behauptet, sondern teilt mit allem, was lebt. Amen.

Barmherziger Gott, erbarm dich auch unser, die wir häufig nicht wissen, was rechts oder links ist, und wenn wir es zu wissen meinen, hilf auch uns barmherzig zu sein!

Geh freundlich mit uns ins Gericht, wenn wir meinen, wir seien im Recht! Zeig uns, was recht ist! Wir bitten Dich. Amen!


Predigt am Sonntag Invokavit, 6. März 2022, in Bissingen an der Enz, Kilianskirche und Martin-Luther-Kirche

Invokavit. Vor genau 500 Jahren war es Martin Luther, der es nicht mehr aushalten konnte und den es nach 10 Monaten in seinem Versteck und Asyl auf der Wartburg nicht mehr gehalten hat. Er verlässt die Burg am 1. März 1522 und kehrt nach Wittenberg zurück ungeachtet der Gefahr, in die er sich begibt, besteigt wenige Tage später die Kanzel. Es ist der Sonntag Invokavit. Acht Tage lang hat er jeden Tag eine Predigt gehalten, die als Invokavitpredigten überliefert wurden – und das wichtigste daran war vielleicht nicht einmal, was er gesagt hat, sondern dass er die Dinge in die Hand genommen hat, dass er gezeigt hat, dass er lebt, dass er kein gebrochener Mann war, sondern zur Sache geredet hat – wie jetzt der ukrainische Präsident – Es ging vor 500 Jahren darum, Dinge zurechtzubringen, die aus dem Ruder gelaufen waren, und die Gemeinde zu festigen. – Luthers Worte zur Sache haben damals ihre Wirkung nicht verfehlt.

Nun haben wir heute wieder den Sonntag Invokavit, versammeln uns hier und anderswo als christliche Gemeinde zum Gottesdienst, zum Gebet und zum Hören auf Gottes Wort, ob es uns etwas zu sagen hätte. Auch wir versammeln uns in einer besonderen Situation: Krieg in der Ukraine. Kiew ist nicht ganz 2000 Kilometer östlich von uns, ungefähr so weit wie Madrid oder Sizilien, aber in die andere Richtung. Das betrifft uns und bedrückt uns. Flüchtende kommen auch nach Deutschland. Geht es uns an?

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 2. Korintherbrief, Kapitel 6,1-10, wo Paulus den Korinthern ins Gewissen redet und schreibt:

1Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. 2Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; 4sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, 5in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; 10als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

in allem erweisen wir uns als Diener Gottes … Was heißt das heute? Was heißt es heute, ein Christ zu sein?

Die Legende von Christophorus ist mir in den Sinn gekommen, die in früheren Zeiten sehr populär war. Ich kenne sie noch aus der Grundschule, aber ihre Beliebtheit geht weit zurück bis ins Mittelalter. Den Namen Christophorus, Christusträger, hat er nicht von Anfang an getragen. Die Legende wird in der Legenda aurea [1] so erzählt, dass er von gewaltiger Größe war, mit einem furchtbaren Angesicht, den es zuhause nicht gehalten hat und der den mächtigsten König suchen wollte, um bei ihm zu bleiben. Eines Tages aber sang vor dem König ein Spielmann ein Lied, darin des Teufels Name gar oft genannt war. Da nun der König ein Christ war, zeichnete er seine Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes, so oft des Teufels Name genannt war. – Christophorus fragt nach, der König weicht aus und gibt schließlich zu: „Wann ich den Teufel höre nennen, so segne ich mich mit diesem Zeichen; denn ich fürchte, dass er sonst Gewalt gewinne über mich und mir schade.“ Da trennen sich ihre Wege. Es gibt einen Mächtigeren als den König. Christophorus sucht nun den Teufel, findet einen Ritter wild und schrecklich anzusehen, und begibt sich in seinen Dienst. Ich suche den Herrn den Teufel denn ich wäre gern sein Knecht. Sprach der Ritter »Ich bin der, den du suchst… «

Wir sehen einen Menschen auf der Suche, wem er dienen möchte. Ein einziges Leben haben wir, und es ist nicht egal, wem wir es widmen, wem wir dienen. Die Christophoruslegende erzählt von einem Menschen auf der Suche nach einer Herausforderung, die es wert ist, dass er sich ihr stellt, und er gerät bei seiner Suche an den Teufel, an den Bösen, das Böse.

Da sie nun mit einander dahin zogen, kamen sie einst auf eine Straße, da war ein Kreuz am Wege erhöhet. Alsbald der Teufel das Kreuz sah, floh er voll Furcht und ließ die Straße und führte Christophorus zur Seite einen rauen und wüsten Weg, und darnach wieder zu der Straßen.

Der Teufel ist hier der, der auf Abwege führt und der einen Bogen um das Kreuz macht. Christophorus spürt, dass etwas nicht stimmt und gibt sich nicht zufrieden, bis er die Wahrheit erfährt.

Es ist ein Mensch gewesen, Christus mit Namen, den hat man ans Kreuz geschlagen; und so ich dieses Kreuzes Zeichen sehe, so fürchte ich mich sehr und muss es fliehen. – Sprach Christophorus »So ist dann jener Christus größer und mächtiger denn du, so du sein Zeichen so sehr fürchtest«

Er gibt dem Teufel Lebewohl und sucht lange Zeit, ob ihm jemand von Christus möchte Kunde geben. Zuletzt kam er zu einem Einsiedler, der predigte ihm von Christus und unterwies ihn mit Fleiß im Glauben. Und sprach zu Christophorus »Der König, dem du dienen willst, begehrt, dass du viel fastest«. Christophorus antwortete: »Er fordere von mir ein ander Ding, denn dies vermag ich nicht zu tun«. Sprach der Einsiedler »Es ist not, dass du viel betest«. Antwortete Christophorus »Ich weiß nicht, was das ist, und kann ihm darin nicht folgen«

Fasten und Beten ist also wohl christlich, aber vielleicht nicht jedermanns Sache, und Christophorus muss es nicht lernen, muss sich nicht mit 7 Wochen ohne befassen und nicht einmal das Vaterunser lernen.

Der Einsiedler sagt ihm: »Weißt du den Fluss, darin viel Menschen umkommen, so sie hinüber wollen fahren>?« Antwortete Christophorus »Ja, ich weiß ihn«. Und der Einsiedler sprach »Du bist groß und stark: setze dich an den Fluss und trage die Menschen dahinüber, so wirst du Christus dem Könige gar genehm sein, dem du zu dienen begehrst; und ich hoffe, dass er sich dir daselbst wird offenbaren«. Sprach Christophorus: »Das vermag ich wohl und will ihm hierin dienen«. Also ging er zu dem Fluss und baute sich am Ufer eine Hütte. Er nahm eine große Stange in seine Hand statt eines Stabes, darauf stütze er sich im Wasser und trug die Menschen alle hinüber ohn Unterlass.

*

In allem erweisen wir uns als Diener Gottes, schreibt Paulus, und zählt auf, was ihm alles widerfahren ist und widerfährt, ein langer Katalog: in großer Geduld, in Bedrängnissen,… Alles nimmt er in Kauf um dieses Dienstes willen. … in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten GerüchtenAls die Sterbenden, und siehe, wir leben.

Es ist gut, liebe Gemeinde, wenn wir wissen, was wir tun müssen, wenn wir uns nicht zu sehr mit unseren Ängsten und Sorgen und Befürchtungen befassen, nicht zu sehr mit Fitnesstraining, Freizeitprogramm, Work-Life-Balance, nicht zu sehr mit uns selbst, sondern mit dem, was wir tun können.

Der Einsiedler hat Christophorus als erstes empfohlen zu fasten. – Und wer nun sieben Wochen bis Ostern – oder für die Dauer des Krieges oder für irgendeine Not fasten kann, der soll das tun! 7 Wochen ohne – in Solidarität mit den Menschen, die nun den Krieg erleiden oder in Solidarität mit den Menschen, die hungern. Wer nicht fasten kann, kann etwas anderes.

Beten. Friedensgebete halten, zu Friedensgebeten gehen. Und vielleicht werden auch Solidaritätskonzerte zu Gebeten! Vielleicht kann man sein Inneres nach außen kehren und zeigen, dass man nicht unberührt ist von dem, was man erfährt. Herr, erbarme Dich! Kyrie eleison! Und stets ist das Gebet eine Haltung, eine innere Zwiesprache, ein Reden des Herzens, wie Luther sagt. Aber wer nicht beten kann, kann etwas anderes.

Spenden, Hilfsbereitschaft zeigen! So wie Christophorus den Menschen über den Fluss geholfen hat, können wir den Menschen, die hier ankommen, in ein neues Leben helfen. Vielleicht können wir nur wenig tun, aber zumindest wie Christophorus und wie Paulus können wir unterwegs sein mit der Frage, wem wir dienen, bis wir den Platz gefunden haben, an dem wir gebraucht werden.

Die Christophorus-Legende geht so weiter, dass ein Kind ihn ruft, das er zunächst gar nicht gesehen hatte. Erst als es zum dritten Mal ruft, nimmt er es wahr. Christophorus nahm das Kind auf seine Schulter, ergriff seine Stange und ging in das Wasser. Aber siehe, das Wasser wuchs höher und höher, und das Kind ward so schwer wie Blei. Je weiter er schritt, je höher stieg das Wasser, je schwerer ward ihm das Kind auf seinen Schultern; also dass er in große Angst kam, und fürchtete, er müsste ertrinken. Und da er mit großer Mühe durch den Fluss war geschritten, setzte er das Kind nieder und sprach »Du hast mich in große Gefahr gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen«. Das Kind antwortete »Des sollst du dich nicht verwundern, Christophorus; du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Denn wisse, ich bin Christus, dein König, dem du mit dieser Arbeit dienst.«

„Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört“ heißt es im Talmud.

Ich denke, nur das hilft uns in dieser Gefahr, in der wir heute stehen und in der die Welt heute steht, dass wir unseren Dienst nicht verlassen, dass wir uns ansprechbar zeigen und unsere Antwort geben, sei es im Fasten, im Beten, im Handeln.

Zum Schluss möchte ich an den Anfang des Predigttextes erinnern, der lautete:

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Tag des Heils? Ist das nicht zynisch?

Nein. Wenn im Unheil dieser Welt ein Licht aufscheint, wenn es so sein kann, dass Menschen nicht nur Verzweiflung empfinden, sondern Aufatmen, Erleichterung, Frieden im Kleinen, wenn etwas Aussicht hat auf Heilung, sodass man von einem Tag des Heils wieder sprechen könnte, dann ist es nicht zynisch. Um das lasst uns bitten und dafür lasst uns handeln. Amen.


[1] Die Legenda aurea des Thomas von Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. 1955 Lambert Schneider, 111993, S. 498ff

Traum, Alptraum, Wirklichkeit…

Kilianskirche Bissingen/Enz

Predigt in der Kilianskirche und in der Martin-Luther-Kirche Bissingen
am 6. Februar 2022
(IV. Sonntag vor der Passionszeit)

Predigttext (Matth. 14,22-33)

22Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! 28Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 33Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Liebe Gemeinde,

was ist das, was uns hier erzählt wird? Eine Geschichte, die sich irgendwann ereignet hat, eine wirkliche Geschichte? Oder die Erinnerung an eine Geschichte? Ist es ein Traum, ein Alptraum? Vermischen sich hier die Realitäten? Auch im Traum erleben wir eine Wirklichkeit, erschrecken, erleben Angst und erwachen aus der Angst.

Nur das Matthäusevangelium kennt diese Geschichte vom sinkenden Petrus. Nur das Matthäusevangelium kennt auch den Taufbefehl: Gehet hin in alle Welt, machet zu Jüngern alle Völker, tauft sie… – Ist diese Geschichte für den Evangelisten die Geschichte von der Taufe des Petrus? Erzählt sie seinen Untergang, seine Rettung…? Erzählt sie etwas von Petrus, wo er durchmusste, um das zu werden, was er später war, um das werden zu können, was er später war?

Hat er das gebraucht, Petrus, dass er, der sich stark gefühlt hat, im Glauben stark, der darauf vertraut hat, mit seinem Glauben auch übers Wasser gehen zu können, wenn Jesus ihn ruft? Hat er es gebraucht, dass es ihn kalt erwischt hat mit dem Verlust des Glaubens in einem einzigen Moment, Zweifel, Angst, Todesangst, das Verloren Sein in der Nacht? Und den dann doch etwas gerettet hat, Jesus selbst, dessen Hand er ergreift als es schon fast zu spät ist.

Wer denkt da nicht zugleich an die Menschen in überfüllten Flüchtlingsbooten, die versuchen, ihr Leben zu retten, indem sie sich aufs Meer wagen? Nur von denen, die gerettet wurden, kennen wir vielleicht ihre Geschichten, nicht aber von denen, die ihr Grab im Meer gefunden haben, die niemand gerettet hat.

Wie erzählen die Geretteten ihre Geschichte? Wie erzählen sie sie am Tag der Rettung und wie nach einem Jahr? Wie erzählen sie sie nach Jahren und wie im Rückblick auf ihr Leben?

Es fühlt sich an, als hätte sich in dieser Geschichte vom sinkenden Petrus vieles verdichtet, was im Leben geschehen ist, geschehen sein kann. Sie besteht aus einzelnen Bildern. Zuerst Jesus, der sich zurückzieht, der auch die Jünger nicht um sich haben will, der die Einsamkeit sucht: … stieg auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein.

Stille.

Das andere Bild war schon angelegt und tritt jetzt in den Vordergrund: die Jünger, die in einem Boot sitzen, alle in einem Boot und aufs andere Ufer zusteuern: Es ist das Bild der Jünger, die für eine Überfahrt, für ein Unternehmen, ein Vorhaben ohne Jesus unterwegs sind. Immer wieder hat er sie losgeschickt, damit sie es lernen, ohne ihn unterwegs zu sein, auf den Straßen des Lebens und im Boot. Aber dieses zweite Bild verwandelt sich unversehens ins Bedrohliche, wandelt sich extrem ins Bedrohliche. Aus der Überfahrt wird ein nächtliches hin und her geworfen Sein inmitten furchtbarer Wellen, und schon fühlt es sich nicht mehr an wie auf dem See Genezareth am Fuß des Golan, sondern viel eher wie mitten im großen Ozean.

Das dritte Bild beschreibt die vierte Nachtwache, in der man dem Gefühl ausgeliefert ist, dass die Nacht lang ist, unendlich lang, und in der unendlich langen Nacht sehen sie eine Gestalt: …und schrien vor Furcht! Männer! Sonst starke Typen, die in ihrer Angst meinen, einem Dämon zu begegnen, einem Nachtgespenst.

Dann Jesus: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! – und die Geschichte geht weiter, wie wir sie kennen und wie sie uns zugleich wirklich und unwirklich vorkommt.

Am nächsten Morgen wird sie nicht in der Zeitung stehen. Aber viele Geschichten, die in der Zeitung stehen und noch mehr Geschichten, die in keiner Zeitung stehen, wird man mit dieser Geschichte in Verbindung bringen können: Was Menschen durchgemacht haben, worin sie zu versinken drohten, in der Arbeit, in der Trauer, in Überforderung, Menschen, denen man zugetraut hatte, dass sie übers Wasser gehen oder die sich das selbst zugetraut hatten. Und dann war der Halt weg, der Boden unter den Füßen schwankend, das Selbstvertrauen zusammengeschrumpft auf ein Nichts, das Seil nicht zu greifen.

*

Am anderen Morgen war da die Erinnerung, dass es die Hand Jesu gewesen sein musste, die Petrus gehalten hat. Am anderen Morgen war da auch die Erinnerung, dass wie durch ein Wunder der Sturm sich gelegt hat.

*

Aber es ist da noch etwas anderes: solche Erfahrungen nimmt man in sein weiteres Leben anders mit als die Erinnerung an einen schönen Urlaub, anders als die Erinnerung an eine Bootsfahrt, die sich dann als kleine Herausforderung entpuppt hat. Es sind Geschichten von Dingen, die man durchgemacht hat, die man verarbeiten muss. Der Evangelist Matthäus wollte in seinem Evangelium auf diese Geschichte nicht verzichten. Als einziger nimmt er sie auf in seinen Text. Dass er sie aufschreibt und überliefert, ist Teil dessen, dass man solche Erfahrungen verarbeiten muss, sie immer wieder neu durchdenken –, und immer wieder kommen sie hoch. Man muss es manchmal zulassen, dass sie wieder hochkommen, oder manchmal unterdrücken, muss darüber reden und kann vieles vielleicht doch nicht richtig erzählen, weil es noch viel schlimmer war oder viel wunderbarer: Kriegserfahrungen, Erfahrungen von Verlust, von Angst, Verzweiflung, Nicht-Weiter-Wissen, aber Weiter-Müssen. Und ebenso sind es Erfahrungen der Rettung, des Erwachens ohne Angst, des Geborgen-Seins, Erfahrungen, dass das Leben neu geschenkt ist, die man verarbeiten muss. Wie erzählt man sie?

*

Noch eines gehört zu dieser Geschichte: Petrus wird nicht in erster Linie als der gezeigt, der in der Kirche eine steile Karriere gemacht hat, der es zum Stellvertreter Christi gebracht hat. Ganz andere Seiten gehören zum Bild dieses Jüngers.

Da ist auch der Aussteiger: Petrus, der in dieser Geschichte versucht, das sinkende Boot zu verlassen – nicht auf Teufel komm raus, sondern in Selbstüberschätzung. Als Aussteiger scheitert er: „Herr, rette mich!“

*

Die Kirche – seit der Reformation denken wir, wenn es um Petrus geht, an die katholische Kirche, aber bis zur Reformation haben wir mit der katholischen Kirche eine gemeinsame Geschichte und sind einander bis heute als Konfessionen verwandt und verbunden. Die Kirche hat das Papstamt als Petrusamt verstanden – und sich selbst als das Boot, das ans andere Ufer unterwegs ist. In unseren Tagen ist die Kirche erneut in schwerer See unterwegs. Es ist nicht nur einer, der aussteigt, es sind viele. Sie sagen, sie können auch ohne Kirche glauben und verlassen das Boot. – Noch mehr in schwerer See ist der emeritierte Papst Benedikt, der nicht mehr souverän ist, zugleich ein alter Mann. Wird das Boot wieder in ruhiges Fahrwasser gelangen, ihr Petrusnachfolger wieder Hirte sein können? Wann ist der Sturm gestillt – und von wem?

*

Am Ende der Geschichte wird nicht geschildert, wie sie ankommen. Es wird nicht bis zu einem Happy End erzählt. Wir sehen die Jünger nicht tropfnass und erschöpft aus dem Boot steigen und Interviews geben, erfahren nicht, dass sie sich nun erst einmal erholen müssen. Die Geschichte endet mit dem Satz: Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“ Das erinnert an den Chor in der griechischen Tragödie, der kommentiert, an den Chor im Weihnachtsoratorium, der die Geschichte so einrahmt, dass sie erst zum Oratorium wird. Am meisten erinnert mich dieser Schluss an das Halleluja im Messias von Georg Friedrich Händel: Am Ende die Anbetung, als wären alle Fragen darin aufgehoben.

Dann kommt die nächste Geschichte: Im Evangelium – oder hier bei uns, und immer wieder die Frage, wo Jesus ist, und ob er bei uns ist und wie wir mit ihm und ohne ihn durchs Leben kommen. Amen.

Predigt zur Diamantenen Konfirmation 2017 am Sonntag Lätare, 26. März 2017

 

Liebe Konfirmationsjubilare und Angehörige, liebe Gemeinde,

vorne auf den Gottesdienstprogrammen ist das Bild vom Innern unserer Bartholomäuskirche. Es sieht aus, als wäre vor der Kanzel, vor dem Altarraum ein Transparent gespannt über das ganze Mittelschiff von einer Säule zur andern.  Auf dem Transparent große Ornamente um ein Schriftfeld herum, auf dem Schriftfeld der Wochenspruch für diesen Sonntag und die neue Woche als Bibelinschrift im Deutsch einer längst vergangen Zeit:

Warlich, warlich Sag ich euch es sey Dan das das weizen körnlin in die erden falle und sterbe so Bleibt es Allain, wo es aber erstirbt, so bringt es vil Frucht   IOAN 12

Der Spruch findet sich im Chor der Bartholomäuskirche.

Wir sind vor kurzem vom landeskirchlichen Archiv auf diese Inschrift hingewiesen worden, weil die Schriftfelder, die man in Chor der Bartholomäuskirche findet, ein frühes Zeugnis der Umsetzung der Reformation in unserer Region sind.

Vom 8. April bis 10. Juni 2017 wird es im Alten Schloss in Stuttgart eine Ausstellung geben „Luther kommt nach Württemberg“. Dort werden im Ausstellungskatalog auch unsere Inschriften zu sehen sein. Sie stammen aus dem Jahr 1593, vermutlich von einem Markgröninger Maler Meister Hans Jerg Herzog. Darauf deuten die Initialen, die an einem der Schriftfelder zu finden sind.

1593. – Vor 424 Jahren also. Wir können uns solche Zeiträume schlecht vorstellen. Die Reformation – 500 Jahre. Die Diamantene Konfirmation 60 Jahre. Wir erfassen es mit unserem Verstand, aber emotional erfassen wir die Zeiträume anders, spüren eher ob uns etwas nah ist oder weniger nah, egal wie weit oder wie nah in der Vergangenheit. Ja, wir befassen wir uns mit dem, was war, interessieren uns für unsere Geschichte, nehmen sie ernst, wichtig.

Auf der Nordseite des Kirchplatz gab es an den letzten beiden Freitagen einen kleinen archäologischen Einsatz auf der Baustelle unter Aufsicht unseres archäologischen Fachmanns, um etwas über die Geschichte unserer Kirche zu erkunden. Fundamente wurden freigelegt, Bestattungen dokumentiert. Interessante Befunde kamen zum Vorschein. Was hier an dieser Stelle, an der wir uns zum Gottesdienst versammeln, einmal war, bedeutet uns etwas, sagt uns etwas, ist uns nicht gleichgültig.

Ein Baum aber kann 100 Jahre alt sein, 300 Jahre und noch älter. Er weiß es nicht. Er steht da, treibt seine Wurzeln in den Boden, die Äste in den Himmel, könnte erzählen von ganzen Epochen und gibt sein Geheimnis nicht preis.

Ein Bauwerk, zweitausend Jahre. Die Klagemauer in Jerusalem zum Beispiel, Westmauer des letzten Tempels, den Herodes erweitert hat. Die Menschen strömen dorthin um zu beten. Jahrhundertelang waren die Mauer im Schutt der Weltgeschichte verborgen bis man sie freigelegt hat. Sie hat sich nicht selbst geregt.

Was ist das mit uns Menschen, dass uns unsere Geschichte so wichtig ist? Wir interessieren uns für den Anfang allen Seins, für die Schöpfung oder einen Urknall und merken, dass wir uns beides nicht vorstellen können, aber wir forschen daran, wollen es wissen, verstehen.

Wir gehen zurück auf die Zeitenwende, auf vergangene Epochen, die Babylonier mit ihren Gesetzen, die Ägypter mit ihrer Kultur, den Pyramiden, die Römer mit ihren Bauwerken, die Kelten mit ihrem Schmuck, die Staufer, das Mittelalter, die Reformation, die Neuzeit. Immer mehr wollen wir wissen, immer mehr über uns selbst, unsere Herkunft, auch persönlich. Wir feiern Geburtstage, Jubiläen, wir denken zurück an Kindheit und Jugend, an Stationen unseres Lebens, an wichtige Ereignisse. Vor 60 Jahren – die Konfirmation. Die Kirchenrenovierung war ein Jahr vorher abgeschlossen worden. Die Orgel stand nicht mehr im Chor. Die Inschriften konnten gelesen werden, die Bilder waren freigelegt, das Geläute wieder vollständig mit der 4. Glocke, die die Heimkehrer gestiftet hatten. Die schönen farbigen Fenster im Chor und in der Vollandkapelle erzählen seither biblische Geschichten.  – Aber freilich, die Konfirmation feiert man mit 14 Jahren. Da waren Ihnen als Jugendliche noch ganz andere Dinge wichtig: die Angst, beim Aufsagen der Texte einen Fehler zu machen, der Schulabschluss, die Geschenke, die Schulkameraden, die Lehrer, das Fest in der Familie. Nach der Konfirmation, so hatte man gesagt, begann der „Ernst des Lebens“.

Vor zehn Jahren haben wir die Goldene Konfirmation gefeiert. Pfarrer Fröschle, der bei Ihrer Konfirmation Vikar war, war dabei, war aus Alpirsbach gekommen. Damals war auch der Konfirmationsjahrgang 1947 mit in der Kirche zur Diamantenen Konfirmation. Schon wieder 10 Jahre vergangen, nicht spurlos vergangen.

Je älter man wird, desto wichtiger wird es einem, auch Spuren zu hinterlassen: nicht nur darüber nachdenken, was im eigenen Leben Spuren hinterlassen hat, sondern auch darüber, welche Spuren man selbst hinterlässt. Die Lebensarbeit kommt in Blick, das, wo man seinen Beitrag gegeben hat, im Beruf, in der Familie, im Verein, in der Politik, für die Wissenschaft, für die Kunst, für die Musik, für das Handwerk, für Frieden, für Versöhnung, für die Natur, für den Erhalt der Schöpfung, was immer es gewesen sein mag und noch ist, vielleicht war es nur das eine, für einen Menschen da zu sein, der einen gebraucht hat, und auch das wäre ein Lebenswerk.

Von Jesus stammt auch das Wort: Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es retten. – Geheimnis, dass der, der viel von seinem Leben haben will, vielleicht am Ende mit wenig dasteht; ein anderer, der viel gegeben hat, viel von sich gegeben hat, am Ende sagen kann, dass er reich ist.

Nicht das, was wir für uns beanspruchen, für uns auf die Seite bringen, zurücklegen, macht uns wirklich reich, sondern das, was wir von uns investieren konnten, investieren können, ist das, wovon wir eines Tages Früchte sehen.

Das Weizenkorn – für Jesus ein Bild des Sich-in-den-Tod-Gebens. Das Weizenkorn fällt in die Erde, erstirbt und im Ersterben entsteht der neue Halm, entsteht die Frucht.

Geheimnis des Lebens. Wir sind in der Hand Gottes nicht ein Stück Holz, nicht ein Stück Eisen, nicht ein toter Stein, nicht ein Denkmal. Wir sind in der Hand Gottes zu etwas nütze, sind zu gebrauchen, müssen nicht eines Tages zum Alten Eisen gehören, dessen Zeit vorüber ist. Wir sind nicht in unseren guten Jahren zu etwas nütze, erfolgreich, leistungsstark, und dann nicht mehr zu gebrauchen. Das Bild vom Weizenkorn sagt uns, dass dort, wo wir in Gottes Wirken einbezogen sind und darin aufgehen Neues wächst.

Das Bild vom Weizenkorn…

Der Maler, der die Bibelinschriften in die Nordwand des Chors gemalt hat, hat diesem Spruch, so kurz er ist, den zentralen Platz gegeben, als wäre dieses Bibelwort für ihn die Mitte der biblischen Schriften. Es ist ein Wort Jesu und es spricht von ihm, Er spricht von sich selbst, aber das Wort meint auch uns. Es ist ein Wunder, wenn etwas aufgeht von dem, was wir gesät haben. Es ist ein noch größeres Wunder, wenn wir selbst die Saat sein durften, ein Weizenkorn in Gottes Hand – und was daraus wird: auch das ist in Gottes Hand. Amen.

Goldene Konfirmation am Sonntag Invokavit, 5. März 2017 – Predigt in der Bartholomäuskirche Markgröningen

Liebe Goldkonfirmanden, Schulkameraden von damals, liebe Gemeinde,

im Vaterunser beten wir die Bitte „und führe uns nicht in Versuchung!“ Es ist die 6. Bitte.

Heutzutage wird nicht mehr so viel auswendig gelernt im Konfirmandenunterricht wie vor 50 Jahren, aber das Vaterunser können noch alle und werden es weiterhin können, das Vaterunser mit dieser Bitte „und führe uns nicht in Versuchung!“  „Versuchung“ ist auch das Thema des Sonntags Invokavit. Es wird uns in der Predigt begegnen.

Die Gedanken gehen zurück in die Zeit vor 50 Jahren, ins Jahr 1967. Am 5. und 12. März, den beiden Konfirmationssonntagen in Markgröningen, war das Jahr noch weitgehend unverdorben, gemessen an dem, was kommen sollte. Aber schon im Januar waren in Cape Canaveral 3 Astronauten in der Raumkapsel Apollo 1 verbrannt, und das Apollo-Programm wurde für fast zwei Jahre lang ausgesetzt. Der Student Benno Ohnesorg hat in Berlin studiert. Im Juni wurde er von einer Polizeikugel getroffen, was der Auftakt war zu Unruhen von mehr als 10 Jahren in der Bundesrepublik. Im März 1967 war auch noch nicht der 6-Tage-Krieg in den Nachrichten, der dann im Juni ausbrach und dem Nahen Osten keinen Frieden brachte.

Am 4. April 1967 hat Martin Luther King, zuvor ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis, in den USA eine berühmte Rede gehalten: Beyond Vietnam – A Time to break Silence. Über Vietnam – Es ist Zeit das Schweigen zu brechen. Auf den Tag genau ein Jahr später wurde auch er von einer tödlichen Kugel getroffen.

1967

Ich selbst bin ein Jahr später, 1968, konfirmiert worden, der Konfirmandenunterricht hatte nach Ostern begonnen. Ich lag nach einem schweren Fahrradunfall wochenlang im Krankenhaus und erinnere mich mehr daran als an den Start des Konfirmandenunterrichts, den ich verpasst habe. Und man hat dann als Jugendlicher auch noch andere Dinge im Kopf als das Weltgeschehen und den Katechismus. Im Radio liefen die Schlager. Nr. 1 war in diesen Wochen im März 67, was zuvor schon in den USA und in England die Nr. 1 gewesen war und heute in der SWR-Hitparade nicht mehr unter die ersten 2000 kommt: „I’m a believer“ von den Monkees. A believer – einer, der es auf einmal glauben kann:

Ich dachte, Liebe gäbe es nur im Märchen, sie wäre etwas für alle andern, aber nicht für mich. Liebe hat mich nie erreicht, so sah es aus. Enttäuschung war das Ende aller meiner Träume.
Dann hab ich ihr ins Gesicht gesehen, jetzt kann ich’s glauben.
Keine Spur von Zweifel hab ich mehr.
Ich bin verliebt, ich kann es glauben, ich könnte sie niemals verlassen.

Da entdeckt einer die Liebe und wird zum „believer“, zu einem, der glaubt, der an die Liebe glaubt und sie nicht mehr für ein Märchen hält.

Im Konfirmandenunterricht hat man auch gelernt, was Glauben heißt. Man hat es nicht mit Schlagern, sondern mit dem Katechismus gelernt, mit dem, was Martin Luther und Johannes Brenz aufgeschrieben haben. Man hat gelernt, dass glauben heißt, „dass ich in Jesus Christus Gott als meinen Vater erkenne und liebe und all mein Vertrauen auf sein Wort setze, ihm freudig gehorche und zuversichtlich zu ihm bete. Ohne Glauben ist’s unmöglich Gott zu gefallen.“ Lernen mussten es alle, irgendjemand hat es bei der Konfirmation vorgetragen. Alle haben zugehört, zugesehen. Erleichterung als es geschafft war. Dann die Verpflichtung, die Einsegnung. 70 Jugendliche wurden am 5. März eingesegnet, 76 am 12. März.

Was ist geblieben von dem, was glauben heißt, von dem Gelernten? Die Sprache der Menschen, der Jugendlichen hatte sich schon verändert. Das „ihm freudig gehorchen“ fällt mit 13, 14 Jahren schwer, „in Jesus Christus Gott als seinen Vater erkennen und lieben und all sein Vertrauen auf sein Wort setzen“, das ist eine Erklärung des Glaubens, die man noch einmal erklären muss. Und doch hat man’s geglaubt oder akzeptiert oder einfach stehen lassen.

Den Schlagertext hat man besser behalten – und vielleicht auch erlebt, dass die Liebe die einen erreicht, die anderen nicht.

  1. Strophe:

Ich dachte Liebe, das wäre mehr oder weniger etwas Gegebenes, etwas von der Art: je mehr ich gebe, desto weniger bekomme ich. Was hat es für einen Sinn, sich da zu versuchen? Du bekommst nur Schmerz. Wenn ich Sonne gebraucht hätte, hat es geregnet.

Millionenfach wurde das gespielt, millionenfach verkauft, lange hat sich der Song gehalten, den man unter diesem Titel findet: I’m a believer! Ja, ich bin auch ein Believer, einer, der glaubt, auch wenn ich meinen Song etwas anders schreiben würde.

Goldene Konfirmation:

Wiedersehen nach 5 Jahrzehnten. Die meisten sehen sich heute nicht zum ersten Mal wieder seit der Konfirmation, aber bei manchen ist es vielleicht lange her, dass sie sich gesehen haben.

Vom März 1967 bis zum März 2017 ist viel passiert, viel mit uns, viel in Markgröningen, viel in der Welt, viel in der Gesellschaft, und wenn wir es heute Jugendlichen erzählen, die 13, 14 sind, interessieren auch sie sich für andere Dinge.

1967 haben sich die Dinge ereignet, die ich eingangs erwähnt habe. Für einige von Ihnen, den Konfirmanden, begann vielleicht schon nach den Sommerferien die Berufsausbildung, andere sind noch weiter zur Schule gegangen.

Die Konfirmation wurde zuhause gefeiert oder in der Wirtschaft, die Verwandten und Nachbarn haben Geschenke gebracht oder Geld. Man konnte sich etwas leisten, ein Fahrrad, eine Uhr, einen Fotoapparat, ein Kofferradio. Oder man hat das Geld aufs Sparbuch getan. Man hat sich bedankt für die Geschenke und Kuchen ausgetragen. Konfirmation war ein hohes Fest, danach war man konfirmiert, hat sich erwachsen gefühlt. Kleid, Anzug und Schuhe haben schon bald nicht mehr gepasst. In der Kirchengemeinde gab es noch die Christenlehre, freiwillig. Irgendwann hatten alle die Schulzeit hinter sich, die ersten haben geheiratet, Kinder sind geboren, die einen sind in Markgröningen geblieben, die andern hat es anderswohin verschlagen. 1977 – der deutsche Herbst, die Entführung und Ermordung von Martin Schleyer, die Entführung der Lufthansa Landshut, die Befreiung, der Selbstmord der RAF-Gefangenen drüben in Stammheim. Das ist nicht weit von hier, nur wenige Kilometer.

13 Jahre später – 1990 haben die Scorpions das Lied herausgebracht Wind of Change. Es war ein sehr, sehr hoffnungsvolles Lied von Veränderung, von Versöhnung, von Zueinanderfinden. Wir haben es als Musikeinspielung am Freitag auf dem Friedhof gehört, als wir von Erwin K. Abschied nehmen mussten, der auch zum Jahrgang gehört hat, der vor 50 Jahren konfirmiert wurde, der noch so gerne bei der Goldenen Konfirmation dabei gewesen wäre und es nicht mehr geschafft hat. Es ist auch nicht selbstverständlich, heute dabei sein zu dürfen.

Wind of Change. Barak Obama hat in seinem Wahlkampf noch gesagt: Change is possible – Veränderung ist möglich, hat noch daran geglaubt. Heute macht uns das Angst, was sich alles verändert, was alles zerfließt, auseinanderläuft, davonschwimmt, einstürzt.

Und wir ahnen, dass die Bitte

Und führe uns nicht in Versuchung

etwas anderes meint als das, was in der Werbung und im Volksmund eine Versuchung genannt wird. Es ist nicht die Bitte, dass man am Süßigkeiten Regal nicht in Versuchung gerät, es ist nicht die Bitte, dass man nicht widerstehen kann, wenn es unwiderstehlich scheint. Es ist um vieles ernster.

Und führe uns nicht in Versuchung,

nicht in das hinein, was uns Angst macht,
nicht in das hinein, was wir nicht mehr bewältigen,
nicht in Versuchung – nicht in den Abgrund, nicht einmal an den Rand des Abgrunds.

Jener Predigttext, den ich heute übergangen habe, wäre die Geschichte vom Sündenfall gewesen, die Geschichte davon, dass den Menschen die Versuchung selbst im Paradies ereilt: Eva nimmt sich die Frucht, den Apfel, gibt ihn Adam. Auch das ist Versuchung, nach mehr zu greifen als einem zusteht. Aber das ist mit der Bitte im Vaterunser nicht gemeint.

In der Lesung haben wir die Geschichte von Jesu Versuchung gehört (Matth. 4): Mach diese Steine zu Brot…, Stürze Dich in die Tiefe, die Engel werden Dich tragen…, gewinne Macht, indem Du den Teufel anbetest…

Das sind Versuchungen anderer Kategorie als die Versuchung im Paradies. Dort war es die Versuchung, das Verbot infrage zu stellen: sollte Gott gesagt haben? Hier ist es die Versuchung, sich in den Mittelpunkt zu stellen, das Spiel mit den Mächten dieser Welt beherrschen, in Rausch zu geraten, die Fäden in der Hand halten. Es sind viele, die dem erliegen und sich verstricken in dem, was sie zu beherrschen meinen, während es längst so ist, dass sie selbst beherrscht sind von dem Spiel, das sie angefangen haben und das sie in Bann gezogen hat.

Die Bitte aber im Vaterunser

Und führe uns nicht in Versuchung

ist auch die Bitte, nicht in Gefahr zu geraten zu verleugnen, was man nie verleugnen wollte, ist auch die Bitte sich nicht erpressen lassen zu müssen,

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Dass diese Bitte gebetet wird, führt uns vor Augen, dass in dieser Welt manches im Argen liegt, vieles im Argen liegt und wir aufgefordert und gerufen sind, Frieden und Versöhnung zu stiften, Wunden zu heilen, Gräben zuzuschütten, Brücken zu bauen, Werkzeuge Gottes zu sein zum Guten, denn es heißt ja nicht: verschone uns von dem Bösen, sondern erlöse uns und gebrauche uns zum Werk des Guten! Amen.

Die Liebe selbst ist aller Mühe wert! Predigt zur Goldenen Konfirmation am Sonntag Judika, 13. März 2016

Predigttext: Joh. 15,9-17
Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich immer die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Ich sage euch das, damit meine Freude euch erfüllt und eure Freude vollkommen ist. Liebt einander, wie ich euch geliebt habe; das ist mein Gebot. Niemand liebt seine Freunde mehr als der, der sein Leben für sie hergibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch Freunde und nicht mehr Diener. Denn ein Diener weiß nicht, was sein Herr tut; ich aber habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt: Ich habe euch dazu bestimmt, zu gehen und Frucht zu tragen – Frucht, die Bestand hat. Wenn ihr dann den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es euch geben, was immer es auch sei. Einander zu lieben – das ist das Gebot, das ich euch gebe.«

Liebe Goldkonfirmanden, liebe Gemeinde,
es klingt wie die Erinnerung an ein Vermächtnis. – „Was hat er uns gesagt, damals?“ – „Bleibt in der Liebe!“ Und er hat gesagt, dass das die Mitte von allem ist: „Freundschaft!“ Auch das hat er gesagt, dass man sich für seine Freunde hergibt. Und: „Vergesst nicht, den Vater im Himmel zu bitten!“

Und das nun zur Goldenen Konfirmation!

Konfirmation 1966-03-13 Konfirmation 1966-03-20Konfirmation 1966-03-13 SimultankircheDie Bilder sind wichtig, die Bilder auf den Gottesdienstprogrammen, die Konfirmationsbilder oder die Klassenbilder, auf denen man sich wiedererkennt und andere wiedererkennt oder erst einmal überlegen muss, wer eigentlich wer ist und an wen man sich sofort und an wen man sich nur ganz allmählich erinnert. Damals war man so nah beieinander, dass man auf ein Bild gepasst hat. Schöne Frisuren. Schöne Kleider. Die Haare der Mädchen alle kurz. Die Haare der Buben immer noch nicht lang. Eine politische Partei hatte das genau in diesen Jahren zum ihrem Wahlkampfslogan gemacht: „Wir schneiden die alten Zöpfe ab!“ und war damals damit recht erfolgreich. Zwei, drei Wochen nach der Konfirmation, am ersten April 1966 begannen die Osterferien, danach das erste Kurzschuljahr, für manche wahrscheinlich schon das letzte Schuljahr, das bis 30. November ging. Manche der Schulkameraden verliert man aus den Augen, mit manchen ist man lange gemeinsam unterwegs, manche trifft man wieder. Konfirmation war auch so etwas wie „entlassen werden!“ im positiven Sinne. Der oder die „kommt aus dr Schul“ hat es früher geheißen, und gemeint war die Konfirmation.

Wie in diesem Predigttext: „Bleibt in meiner Liebe!“ –  „Ihr werdet es selbst richten müssen!“ Am Anfang sind da die Eltern, die Lehrer, dann die Pfarrer, mehr und mehr löst man sich, geht seinen Weg, lernt einen Beruf, bekommt Verantwortung, bringt es zu etwas. Manche bringen es weiter, manche nicht so weit.

In der Schriftlesung, die wir gehört haben (Markus 10,35-45), ist die Frage angeschnitten, wie weit man es bringen kann im Leben, wenn man die richtigen Beziehungen hat: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.“ Das wäre doch das Ziel aller Ziele, mitregieren an höchster Stelle, nicht mehr schaffen müssen, bloß noch Entscheidungsträger sein, keinen Widerspruch fürchten müssen. Repräsentieren. Interessant, dass diese Anfrage im Neuen Testament mit überliefert ist, die dann mit dem Hinweis auf den Weg, den Jesus zu gehen hatte, beantwortet wird: Könnt Ihr das auch, den untersten Weg gehen?

Ja, wie weit kann man es bringen im Leben? Und dann kommen ungefragt die Momente, die einem zu schaffen machen oder es sind gar nicht nur Momente, sondern es sind Belastungen, die man zu tragen bekommt, was auch immer.

Die Kirche – Bewahrerin des Glaubens an Jesus Christus. Vielleicht wird sie den einen zum Halt, den andern zum Ärgernis, vielen vielleicht bedeutungslos oder fremd: es ist kein Zwang mehr, Gott sei Dank! Aber ist da noch etwas zu spüren, was einem nachgehen könnte? Ist da noch etwas, womit man noch nicht fertig ist, womit man noch etwas anfangen kann? Was hat einem die Kirche mitgegeben, was hat man selbst beigetragen?
Und welche Vermächtnisse hat man sonst noch bekommen im Leben? Was hat man von den Eltern mitbekommen, mitgenommen? Was von den Lehrerinnen und Lehrern, was hat bei den Weichenstellungen im Leben einen Ausschlag gegeben? Wie hat man die runden Geburtstage erlebt? Volljährig damals noch mit 21, der 30. Geburtstag, der 40., der 50., der 60.?

Glückliche Momente, Stunden, Tage, Lebensabschnitte. Schwierige Momente, Stunden, Tage, Lebensabschnitte. Erfolg und Misserfolg und viel, viel Alltag. Manchmal die Frage: was tu ich mir da an? Könnte nicht alles ein bisschen einfacher sein? ⇒ „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt: Ich habe euch dazu bestimmt, zu gehen und Frucht zu tragen – Frucht, die Bestand hat.“ – Wirklich, vieles im Leben hat man sich nicht selbst ausgesucht und steckt doch drin und gibt sein Bestes. Woher kommt immer wieder die Kraft? Schön, wenn man sehen darf, dass etwas, in das man vielleicht sein Herzblut gegeben hat, Bestand hat. Schlimm, wenn einem etwas zwischen den Händen zerrinnt. Oder kann auch das für etwas gut sein?

Man wird älter. In zwei Jahren gehöre ich dann auch selbst zum Jahrgang der Goldenen Konfirmation. Es gibt, wenn man die Jahre am inneren Auge vorbeiziehen lässt vieles, wofür man dankbar sein darf. Und worauf ist es angekommen? Worauf kommt es immer noch an? »Einander zu lieben – das ist das Gebot, das ich euch gebe!« Und es heißt nicht: »Einander zu lieben – das ist das Gefühl, auf das es ankommt«. »Gebot!« Weil es einem nicht immer zufällt, dass man in der Liebe bleibt und die Liebe nicht verlässt. Es ist manchmal ein Mühen um die Liebe, Liebesmüh; und es ist, als würde Jesus sagen, dass Liebesmüh niemals vergeblich ist. Freilich wird man fragen müssen, was von Fall zu Fall der Liebe dient und was der Mühe wert ist. Die Liebe selbst ist aller Mühe wert. Amen.

Lieblingsplatz – Predigt zur Konfirmation am 24. April 2016

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,
„Mein Lieblingsplatz.“ Das war unter anderem gefragt in Euren Steckbriefen, die Ihr am Anfang der Konfi-Zeit ausgefüllt habt, und niemand hat dieses Feld auf dem Steckbrief leer gelassen.

Konfirmandensteckbrief2015f_A5Ich hab mich noch einmal ganz intensiv mit Euren Antworten beschäftigt:  Es gibt eine Hauptrichtung. Der Lieblingsplatz muss ein Platz sein, wo Ihr so sein dürft, wie Ihr seid, wo Ihr Euch so geben dürft, wie’s Euch geht, wo kein Druck herrscht, kein Stress, wo Ihr nicht unter Beobachtung steht. Entweder, wo Ihr ganz für Euch seid: irgendwo draußen, auf einer Bank am Feldweg, im Garten oder am Meer, in Schweden am Strand oder in Kroatien. Oder dort, wo Ihr mit jemandem zusammen seid, wo’s Euch nur gut tut: bei der Oma oder bei Freunden – oder doch: in Eurem Zimmer. Vier von Euch haben was vom Bett geschrieben.
Aber natürlich gibt’s für alle viele Lieblingsplätze und es gibt Plätze, die da nicht dazu gehören. Niemand hat „Schule“ eingetragen, niemand hat sonst was eingetragen, wo man mit Leistung gefordert ist. „Kirche“ steht auch bei niemand, aber das war ja am Anfang vom Konfi-Jahr. Ich würde für mich natürlich schon die Bartholomäuskirche zu meinen Lieblingsplätzen zählen, aber ich hab ja einen Schlüssel und kann ganz alleine in die Kirche gehen.
Jeder braucht die Plätze, wo niemand etwas von einem will, wo man ganz sein darf, wer man ist, und man braucht die Momente, bei denen man auftankt, Kraft schöpft, sich regeneriert. Man kann nicht immer nur funktionieren.
Vielleicht, wenn Ihr die Karte heute noch einmal ausfüllen würdet, würden sich die Antworten leicht verändern. Vielleicht ist ein neuer Lieblingsplatz dazugekommen, vielleicht hat sich ein Lieblingsplatz verbessert, verschlechtert. Vielleicht hat sich in Eurem Lebensgefühl etwas verändert.
Das Thema, wo unser Platz ist, ist ein Lebensthema.

Der schönste Platz im Weltall ist die Erde, mit der die Menschen sehr rücksichtslos umgehen. Im Weltall herrscht weit und breit nur Leere. Man würde die Sterne, weit entfernte Himmelskörper ja nicht sehen, wenn’s bis zu ihnen hin nicht komplett leer wäre. Zum Mond fliegt man drei Tage, und kann es dort nicht aushalten, zum Mars mehrere Monate und kann es dort nicht aushalten. Der schönste Platz im Weltall ist die Erde, die wir mit anderen Menschen, mit anderen Geschöpfen teilen. Die Erde ist unser Platz, den wir uns nicht selbst gegeben haben. Sie gehört uns nicht! Wir sind hier Gäste.

Was tun auf der Erde? Wohin gehen auf der Erde?
Wo ist unser Platz auf der Erde?

Und nun sage ich Euch ein kurzes Wort aus der Bibel: Folge mir nach! Mit dieser Aufforderung hat Jesus seine Jünger berufen und sie sind ihm gefolgt. Sie haben ihren Platz gefunden, indem sie mitgegangen sind, mit Jesus mitgegangen sind. Sie haben erlebt wie er zu den Leuten geredet hat, sie haben erlebt wie er Kranke geheilt hat, sie haben erlebt, wie er die Hungrigen gespeist hat und wie er mit seinen Gegnern diskutiert und gestritten hat. Sie haben ihren Platz gefunden, wo sie ihm dienen konnten oder in seinem Auftrag handeln konnten. Sie sind, glaubt man der Überlieferung, weit herumgekommen in der Welt.

Wo Euer Platz eines Tages sein wird, was Eure Aufgabe sein wird, ist nicht egal, denn Ihr seid wichtig. Euer Platz in Eurer Familie, Euer Platz in der Gesellschaft, Euer Platz in der Kirche, Euer Platz in der Welt. – Eure Aufgabe in Eurer Familie, Eure Aufgabe im Beruf, in der Gesellschaft, Eure Aufgabe in der Kirche: Ihr werdet gebraucht und ganz bestimmt nicht nur als Steuerzahler, sondern mit Euren Begabungen, mit Eurem Wissen, mit Euren Besonderheiten. Ihr werdet gebraucht, Ihr sollt Euren Platz ausfüllen, Euren Beitrag geben, und es wäre schön und wichtig, wenn das mit der Nachfolge Jesu in Einklang zu bringen wäre. Wenn Euer Glaube dann ein gelebter Glaube ist, Euer Christentum nicht eine reine Äußerlichkeit, Eure Nachfolge wirklich eine eigene Entscheidung und nicht nur ein Hinterherlaufen.

Und glaubt mir: Eure Lieblingsplätze wird es weiterhin geben und Ihr werdet sie weiterhin brauchen. Einmal heißt es in einem Psalm: Du stellst meine Füße auf weiten Raum. So hat dieser Mensch Gott erfahren, als einen, der ihm viel Platz gibt. Dieser Jemand hat seinen Standpunkt in einer großen Weite gefunden, dort, wo es, Gott sei Dank, nicht eng zugeht. Amen.

VERTRAUEN NACH GANZ OBEN… Predigt am Sonntag Invokavit

Predigttext: Hebr. 4,14-16 (Ü: In Anlehnung an „Neue Genfer Übersetzung“)

Weil wir nun aber einen großen Hohenpriester haben, der den ganzen Himmel ´bis hin zum Thron Gottes` durchschritten hat – Jesus, den Sohn Gottes –, wollen wir entschlossen an unserem Bekenntnis zu ihm festhalten. Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte. Vielmehr war er – genau wie wir – Versuchungen aller Art ausgesetzt, ´allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass` er ohne Sünde blieb.

Lasst uns also unerschrocken, freimütig und zuversichtlich vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.

Liebe Gemeinde,

für die Leserschaft des Hebräerbriefs war die Gestalt des Hohenpriesters vielleicht noch vorstellbar. Der oberste der Priester am Jerusalemer Tempel, gekleidet in prächtige Gewänder an den Festtagen. In einem frühchristlichen Brief ist die Erinnerung an diese Institution noch lebendig: „Diese Erscheinung ruft Ehrfurcht und Staunen hervor, so dass man sich wie in eine andere Welt versetzt glaubt.“

Vielleicht muss man an den Papst denken, an die Begegnung des Papstes mit dem Oberhaupt der russisch orthodoxen Kirche dieser Tag in Kuba, Würdenträger auf die die Blicke der Menschen gerichtet sind. Die jeweils Gläubigen dieser oder jener Konfession, und nicht nur sie, begehren es, diesen Oberhäuptern nahe zu kommen, etwas von ihrer Ausstrahlung zu verspüren.

Den Christen der frühen Gemeinden, die keinen Hohenpriester hatten, überhaupt noch kaum Ämter, schon gar keine Messgewänder, Fest- und Feiertagsgewänder und keine großen Riten, ihnen wird mit diesem Abschnitt gesagt, zu wem sie aufblicken können und wer ihr Hohepriester ist:  Jesus, der Sohn Gottes. „Lasst uns festhalten an unserem Bekenntnis zu ihm.“ Offenbar war es manchen zu nüchtern geworden in den Versammlungen, zu substanzlos, zu unattraktiv. Sie haben sich zurückgezogen aus den christlichen Gemeinden. Eindringlich redet der Briefschreiber seinen Adressaten zu Herzen. „Lasst uns festhalten am Bekenntnis zu Jesus, dem Sohn Gottes!“ Er wird beschrieben als der, der nicht nur gelegentlich prächtig gekleidet in den Tempel einzieht und einmal im Jahr am Versöhnungstag die Schritte bis ins Allerheiligste des Tempels gehen durfte, sondern der „den Himmel“ durchschritten hat bis zum Thron Gottes. Dem Schreiber des Briefs gilt das mehr als jede menschliche Gestalt, zu der man aufblicken mag. Aber freilich, dass wir jemanden brauchen, zu dem wir aufblicken können, das ist keine Frage.

Zu jemandem aufblicken, weil man selbst unten ist.

Zu jemandem aufblicken, weil man sich selbst nicht aufrichten kann.

Zu jemandem aufblicken, weil man vielleicht verstört ist.

Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte“
– in dem, was uns zu schaffen macht;
– in dem, wo wir verunsichert sind,
einer, zu dem wir aufblicken können, einer, zu dem wir aufblicken sollen,
einer, dem nichts Menschliches fremd ist, der all dem ausgesetzt war, was Menschen zum Straucheln bringt, der darum mitfühlen kann.

Ich denke an die Bilder, die uns das Fernsehen diese Woche gezeigt hat, Menschen, die trauern an der Unfallstelle des Zugunglücks in Bayern,
Flüchtlinge, die vor verschlossenen Grenzen stehen, an Zäunen,
ratlose Gesichter von Regierungschefs und hochrangigen Politikern bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder wo immer sie sich begegnen, um Probleme zu lösen, die sich kaum lösen lassen,
verunsicherte Menschen vielerorts, die nicht mehr wissen, was sie denken sollen, andere, die irgendwo anpacken und Hand anlegen, die helfen bis zur Erschöpfung, aber was kommt nach der Erschöpfung?
Fernsehjournalisten, Radiomoderatoren, Presseleute, die Bilder und Meinungen einfangen und um die Welt schicken, die ihr Mikrophon hinhalten und irgendjemand sagt irgendetwas, was andere auch schon einmal gesagt haben, gehört haben, was nichts Neues ist. Der Bundespräsident in Afrika, Mali, dankt den deutschen Soldaten und macht ihnen Mut. Sie sind nicht dort als Touristen, sondern in ernster Mission. Zu wem sollen wir, dürfen wir aufblicken?

Vielleicht ahnen wir, was uns mit diesem Predigttext vom Hohenpriester Jesus, der mitleiden kann, gesagt werden soll. Vielleicht können wir uns etwas sagen lassen von diesem Predigttext zum ersten Sonntag der Passionszeit, Invokavit, der einmal im Königreich Württemberg ein Landesbußtag war, wohl gemerkt ein Landes-Bußtag für die Bürger des Landes, nicht nur für die Kirchgänger, ein Tag der Einkehr, des Gebets, der Besinnung. Es würde uns wahrhaft gut tun. Aber dann kämen ja gleich die Fragen, was erlaubt wäre an so einem Tag, und insofern – lassen wir es lieber!

Vielleicht können wir uns sagen lassen, dass das auch von uns in Anspruch genommen werden kann: aufblicken zu Jesus, dem Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat. Er „…ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte.“

Und dann:

„Lasst uns also unerschrocken, freimütig und zuversichtlich vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.“

Irgendwie, denke ich, da steckt Vertrauen drin. Vertrauen nach ganz oben, das wir teilen sollten mit allen, die sich Sorgen machen, „…dass er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.“ Amen.

14.02.2016, Bartholomäuskirche Markgröningen

Mach das, was Du kannst! Predigt am 2. Advent 2015 (Jakobus 5,7-8)

Predigttext: Jakobus 5,7-8

Übt euch in Geduld, Brüder und Schwestern, bis der Herr wiederkommt! Seht, wie der Bauer auf die köstliche Frucht seines Ackers wartet: Er übt sich in Geduld – so lange, bis Frühregen und Spätregen gefallen sind. So sollt auch ihr euch in Geduld üben und eure Herzen stärken. Das Kommen des Herrn steht nahe bevor.

Predigt

Liebe Gemeinde,

Jakobus, ein Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus“, so stellt sich der Autor vor, der diesen Brief geschrieben hat. Es hat zu seiner Zeit noch keinen ersten, zweiten, dritten und vierten Advent gegeben. Jakobus wäre wahrscheinlich entsetzt, wenn er hören würde, dass wir von seinem Brief, immerhin 5 Kapitel, nur zwei Verse seiner Schlussbemerkungen als Predigttext bekommen. „Dann lest doch mal den ganzen Brief!“ würde er uns sagen, und wir würden als Leser seines Briefes spüren, dass ihm die Gerechtigkeit ein zentrales Anliegen ist, soziale Gerechtigkeit sagen wir heute, die Armen, die Bedürftigen, und dass man nicht in den Tag hineinlebt, sondern seine Zeit nützt, dass man nicht redet, was einem gerade einfällt, sondern seine Zunge zügeln kann, dass man für die Kranken und mit den Kranken betet und nicht nur sagt: wird schon wieder gut, dass man sich nicht nur seines Glaubens rühmt, sondern seinem Glauben auch Taten folgen lässt. „Der Glaube ohne Werke ist tot“, schreibt er.

Und nun: „Übt euch in Geduld, Brüder und Schwestern, bis der Herr wiederkommt!“

Das ist die große Erwartung der ersten Christen, dass der Herr wiederkommt – und allem Leiden ein Ende setzt, dass er Gerechtigkeit heraufführt, dass er die Seufzenden erlöst. Die große Erwartung der ersten Christen ist nicht der Heiligabend und das Weihnachtsfest alle Jahre wieder, sondern die Vollendung des Reiches Gottes. Darauf hoffen sie.

Und wenn wir heute Advent feiern, den ersten, den zweiten, den dritten, den vierten Advent, dann auch, damit wir weiter denken und hoffen als bis Weihnachten, weiter als bis zur Bescherung, so willkommen und schön sie ist. Advent – die Hoffnung dass eines Tages alles vollendet und alles gut ist.

Jakobus schreibt von Geduld. Ich verstehe es so, dass er die Stimmung nicht anheizt und nicht aufheizt, nicht die Armen gegen die Reichen aufwiegelt, obwohl er den Reichen ins Gewissen redet. Er sieht eine Menge Unrecht und Ungerechtigkeit, Ungereimtheiten, eine Menge Unkorrektheiten, er sieht einen Glauben, wo Menschen es sich im Glauben bequem machen und findet äußerst klare Worte dagegen, nennt Missstände beim Namen. Aber er mahnt zur auch Geduld.

Beklagt euch nicht übereinander“, schreibt er. Die Standhaftigkeit preist er und das klare Wort, die Offenheit, die Ehrlichkeit, das Schuldbekenntnis, statt alles unter den Teppich zu kehren.

Wie geht es uns damit? Wo zur Geduld gerufen wird, stehen die Dinge ja noch nicht zum Guten, ist der Tag noch nicht perfekt. Wir hätten so viele Probleme gerne gelöst. Wir würden gerne sehen, dass sich die Dinge wieder zum Guten wenden, dass die Klimakonferenz in Paris ein Aufbruch ist, der Ergebnisse hat, die spürbar gut tun, der Klimawandel in einem Jahr gestoppt… Wir würden gerne hören, dass die Flugzeugträger von der syrischen Mittelmeerküste umdrehen, weil dort Frieden ist und die Flüchtlinge zurückkehren und ihr Land aufbauen. Wir würden gerne in den Nachrichten hören, dass Waffen vernichtet werden statt in die falschen Hände zu gelangen und genug Geld zusammenkommt, damit die Hungernden wieder Essenrationen bekommen.

Geduld. Geduld heißt auch: nicht aufgeben! Nicht aufgeben und nicht falsch reagieren! Am meisten Geduld brauchen wir mit uns selbst. Irgendeine Unruhe scheint uns täglich zu ergreifen, dass uns das Wort Geduld so unangenehm ist:

Noch 18 Türchen im Adventskalender bis zum Heiligabend, noch zweieinhalb Wochen, in denen wir einkaufen, einpacken, Gutsle backen, den Christbaum besorgen, Weihnachtskarten verschicken, Besuche machen, an Weihnachtsfeiern teilnehmen – und kaum zur Ruhe kommen. Was würde dieser Jakobus uns heute schreiben?

Ich ahne, er würde uns ins Kloster schicken oder auf eine Pilgerreise, würde uns dringend raten uns um unserem inneren Kompass zu kümmern, würde uns raten, das Gebet für uns zu entdecken, aber nicht darin zu verkrampfen, weniger zu reden, aber dafür klar. Und wir würden dann sagen: „Ja, Jakobus, Du hast Recht, aber das schaffen wir nicht! Es ist, was wir uns schon so oft vorgenommen haben, und wir kommen nicht weit. Es ist was uns schon so oft eingeleuchtet hat, aber wir stehen uns selbst im Weg!“ – Wie dem heiligen Christophorus geht es uns[1], der Christus dienen wollte, aber gesagt hat, er könne nicht fasten, der Christus dienen wollte, aber zugeben musste, das Beten liegt ihm nicht. „Gibt es keinen anderen Weg?“, fragt er den Einsiedler. Und jener Einsiedler, der ihn im Dienst Christi unterwiesen hat, hat ihn nicht weggeschickt. Er hat ihm gesagt: mach das, was Du kannst, geh zum Fluss und hilf den Leuten, ans andere Ufer zu gelangen. So ist er ein Heiliger geworden, indem er das getan hat, was er tun konnte und hat nicht die Welt gerettet, aber ein paar Menschen ans andere Ufer gebracht, hat nicht die Welt erlöst, aber ein paar sind nicht ertrunken, weil er da war. Die Geduld, die nötig war, hat er bekommen und einen wichtigen Dienst für die getan, die auf dem Weg waren wie die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen.

Eines Tages war es ein Kind, das er zu tragen hatte, und die Legende sagt, dass es ihm fast so schwer wurde, als trüge er die ganze Last der Welt auf seinen Schultern. Als er das Kind gerettet hatte, hat es sich ihm offenbart als Christus, der Herr der Welt. „Christophorus“ wurde er genannt: „der, der Christus trägt“. Vier Darstellungen von ihm haben wir in unserer Kirche. Christophorus war wirklich ein adventlicher Mensch. Er war unterwegs, er war auf der Suche, er ist angekommen. Amen.

[1] Jacobus de Voragine, Die Legenda aurea, Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, 1955. Lizenzausgabe für die wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, S. 498ff

Lazarus ist krank!

Predigt am
16. Sonntag n.Trinitatis,
20. September 2015

Predigttext: Joh 11,1(2)3.17-27.(28-38a)38b-45

1Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta.

(2Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder La zarus war krank.)

3Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.

17Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. 18Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt 19Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. 20Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen. 21Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 22Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; 26und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.

(28Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria und sprach heimlich zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich. 29Als Maria das hörte, stand sie eilends auf und kam zu ihm. 30Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war. 31Als die Juden, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria eilends aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten: Sie geht zum Grab, um dort zu weinen. 32Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 33Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und erbebte 34und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh __! 35Und Jesus gingen die Augen über. 36Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt! 37Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste? 38Da ergrimmte Jesus abermals und)

(Jesus) kommt zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor. 39Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. 40Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! 45Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. Johannes 11,1(2)3.17-27(28-38a)38b-45

Predigt

Liebe Gemeinde,
Lazarus ist krank. Um ihn steht es nicht gut. Das wird nicht von allein. Die letzte Hoffnung, dass Jesus kommt.

Wenn ich an Lazarus denke, fällt mir so vieles ein, was krank ist, was nicht wieder von allein wird, was düster aussieht. Wenn’s nur nicht wir selbst sind, oder die Kirche, die Kirchengemeinde. Diese Woche kam ein Anruf von einer Mitarbeiterin im Kindergarten: hier ist es nicht fünf vor 12, hier ist es schon 5 nach 12. Wir können nicht mehr. Personalknappheit – und man kann nicht sagen: liebe Eltern, lasst Eure Kinder doch mal eine Woche zuhause, oder es gibt ein paar Tage kein Mittagessen. Zuhause ist ja auch nicht unbedingt alles entspannt.

Im Sozialen geht’s eng zu, ob in den Pflegediensten, in den Pflegeheimen, in den Häusern mit Pflegebedürftigen, in den Familien, wo wir hinschauen… Lazarus ist krank. Es ist das, was man vollends gar nicht brauchen kann, wenn auch noch die guten Leute ausfallen, die, auf die bisher Verlass war, die man anrufen konnte und um etwas bitten konnte, die eingesprungen sind und beigesprungen sind. Jetzt brauchen wir in Markgröningen einen Seniorenrat. Aber wer soll dafür kandidieren? Lazarus ist krank, den man immer fragen konnte, der Freund von Jesus.

Da muss ein Wunder her! Den brauchen wir doch, der muss gesund werden! Lazarus darf nicht sterben! Jesus, wo bist Du? Jesus, beeil Dich!

Zurück nach Deutschland: Ein hoher Beamter tritt zurück, der Leiter des Bundesamts für Flüchtlinge und Migration. Gerade jetzt, wo täglich tausende kommen. Es geht nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, es geht vielen persönlich an die Grenze, wie es bei den Flüchtlingen selbst an die Grenze geht: Kein Weiterkommen, Stacheldraht, das Meer, Gesetze, kein Geld. Jetzt braucht es die richtigen Leute, Besonnenheit, Glauben, Vertrauen, Gottvertrauen, Mut, Entschlossenheit, Unerschrockenheit. Und Lazarus ist krank.

Der hätte doch Entlastung bringen können, der hatte doch immer Ideen und eine große Zuversicht, dem war nicht schnell etwas zu viel, der hatte gute Kontakte und einen starken Rückhalt in seinem Dorf Bethanien. Lazarus, den kannten alle, und als er tot war, wussten es in Windeseile alle: Lazarus ist gestorben. Welch ein Schock! Welch ein Schmerz! Was soll nun werden?

Und es kamen viele zu Marta und Maria, sie zu trösten wegen ihres Bruders. – „Es tut mir so leid!“ – „Wer soll diese Lücke ausfüllen?“ – „Der wird noch lange fehlen?“ – „Warum gerade er?“

Jesus kommt. Marta sagt: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Vielleicht sagt sie auch: „Er hat so sehr auf Dich gewartet!“ Vielleicht sagt sie: „Jesus, geh nicht weg! Wir schaffen es nicht!“ Marta trauert und stellt Fragen. Marta trauert um Lazarus. Aber sie sagt etwas, sie redet, sie ist noch nicht verstummt.

Jesus sagt: „Dein Bruder wird auferstehen!“ Für Marta ist das ein schwacher Trost, kein starker Trost. Für alle, die so etwas hören, ist es ein schwacher Trost, kein starker Trost. Was nützt es denen, die jetzt Lazarus vermissen, dass er auferstehen wird irgendwann, irgendwo, irgendwie? Es klingt müde, was Marta antwortet: „Ich weiß wohl dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.“ Oder ist das nicht nur müde, sondern schon trotzig, ärgerlich?

Jetzt, wo Jesus nach Lazarus fragt und Marta als Frau vor ihm steht, jetzt scheint alles, was ungelöst ist, was die Kräfte aufbraucht, was die Fragen nicht beantwortet, im Hintergrund. Für diesen einen Moment scheint es alles im Hintergrund zu sein; aber es ist nur im Hintergrund. Es nicht weit weg, dass Lazarus fehlt, dass er an allen Ecken und Enden fehlt.

Da helfen die theologischen Ausflüchte nicht: „Du musst jetzt ganz fest glauben“ oder „Alles wird gut!“ „Wir werden ihn nie vergessen!“ „Er wird in unseren Herzen leben.“ Schwacher Trost ist nicht gefragt. Billiger Trost hilft nicht weiter. Und Jesus sagt auf den Satz von Marta, „Herr, ich weiß“ den Satz, der mit „Ich“ beginnt, mit „Ich bin“, den Satz, mit dem er sich ganz weit hinaus wagt, sagt: „Ich verkörpere das!“ „Die Auferstehung, Marta, das bin ich!

Und damit dieses Wort so verstanden wir, wie es gemeint ist, wird erzählt wie Jesus geweint hat um seinen Freund, wie ihm die Augen übergegangen sind und ihn das nicht unberührt gelassesn hat und wie er Lazarus vom Tod erweckt in dieses Leben und nicht ins Jenseits, in diese Welt und nicht in eine andere Welt. Jesus sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben!“ Und er sagt nicht: Ich bin die Auferstehung am jüngsten Tag. Und wer da lebt und glaubt an mich, er wird anderswo und anders weiterleben… Das „anderswo“ und „anders“ sagt er nicht, aber er sagt: wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst Du das?“ Zu viel für Marta, zu viel für uns. Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Lazarus war krank. Lazarus war am Ende. Lazarus war tot. Lazarus hatten sie schon begraben. Von Lazarus hatten sie Abschied genommen und sich in das Unabänderliche geschickt. Von Lazarus hatten sie erzählt, dass es nun auch schon vier Tage her ist und dass das Leben weitergehen muss, trotz der Lücke und irgendwie. – Jesus ist mit diesem Tod nicht einverstanden. Jesus schickt sich nicht ins Unabänderliche, nicht einmal in den Tod, sondern geht hin und ruft ihn zurück ins Leben und er will uns zurück ins Leben rufen. Er will die zurück ins Leben holen, die fertig sind, vollkommen fertig, fix und fertig, die an ihn geglaubt haben, und nicht mehr können. Er will sie nicht tot, will sie nicht tatenlos, nicht sprachlos, nicht reglos und bewegungslos, nicht gedankenlos, nicht glaubenslos, nicht hoffnungslos, nicht freudlos, nicht lieblos, will sie nicht im Grab, will sie mitnehmen in die Auferstehung – jetzt, mitnehmen ins Leben. Nicht später, sondern jetzt!

Diese Geschichte endet unglaublich: „Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“

Unglaublich, damit alle die das lesen, alle, die diese Geschichte hören, alle, die sich vielleicht in dieser Geschichte wiederfinden, bereit sind, das Unglaubliche zu glauben,

das Unglaubliche, dass es eine Auferstehung ins Leben gibt trotz Krankheit, trotz Kraftlosigkeit, trotz dem, was hoffnungslos erscheint, aussichtslos, wenn nicht ein Wunder geschieht. – Das Unglaubliche glauben! Nicht, weil es spektakulär ist oder der Beweis, dass man Recht gehabt hat. Nur nicht, dass man noch seinen Glauben vor sich herträgt! Sondern das Unglaubliche glauben, dass es in all unserem Siechtum in all unserem Unterliegen, in all unserer Neigung zur Resignation eine Auferstehung ins Leben gibt, selbst dann, wenn schon alles zu spät ist. Für Gott, für Jesus scheint es ein „zu spät“ nicht zu geben, auch nicht, wenn’s vier Tage, wenn’s lange gedauert hat.

 

Herr Jesus Christus,
nimm uns mit ins Leben,
uns einzelne, uns alle miteinander,
unsere Kirchengemeinden und unsere Kirchengemeinde, unsere ganze Kirche.
Lass nicht zu, dass alles langsam verwest und zerfällt.
Lass auch nicht zu,
dass das gepflegt wird, was kein Leben hat.
Gib neu Deinen Geist, Deine Kraft in unsre müden Glieder! Erweck uns zu neu. Wir bitten Dich! Amen.