Gelassenheit

Liebe Leserin, lieber Leser,

mit dieser Ausgabe der Markgröninger Nachrichten verabschiede ich mich auch von Ihnen als treue oder gelegentliche Leserinnen und Leser dieser Spalte. Einer, der mir immer wieder etwas zu sagen hatte, ist und war der Philosoph und Mystiker Meister Eckhardt, einer der großen Denker des Mittelalters. Seine Lebensdaten (1260-1328) fallen genau mit der Bauzeit unserer Bartholomäuskirche zusammen. Sein großes Thema war Gelassenheit. Einen seiner Sätze habe ich mir so in den Kalender geschrieben, dass ich von Zeit zu Zeit daran erinnert werde:

Darum fange bei dir selbst an und lass dich.

Je mehr die Menschen nach außen gehen, umso weniger finden sie Frieden. Sie gehen wie jemand, der den Weg nicht findet. Je weiter er geht, umso mehr verirrt er sich. Was soll er also tun? Er soll sich selbst erst einmal lassen, dann hat er alles gelassen.

Die Worte haben in 750 Jahren nichts von Ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil, sie scheinen so zutreffend wie nie zuvor. – „Je mehr die Menschen nach außen gehen, umso weniger finden sie Frieden.“

Es kommt mir vor, als wäre unserer Epoche die Mitte abhandengekommen und es gähnte im Innern eine große Leere, die sich schwer füllen lässt. Der Rat des Meisters: Gelassenheit. Er rät bei sich selbst anzufangen und sich zu lassen. Merkwürdig, denke ich, dass ein erfülltes Leben mit Gelassenheit zusammenhängt, damit, lassen zu können und sich lassen zu können, auch loslassen zu können. Es ist eine Übung, kein Besitz, das Lassen und Loslassen. Wir müssen es immer wieder von neuem lernen zur Gelassenheit zu kommen. Am ehesten kommen wir zur Gelassenheit durch Gebet. Gebet und Schwimmen sind sich darin ähnlich, dass man den festen Boden unter den Füßen verlassen muss, sich nicht festhalten darf und nur durch Loslassen vorwärtskommt. Wer schwimmt, hat das Ufer vor Augen, die/der Betende Gott.

Ihr Pfarrer Traugott Plieninger

[Amtsblatt Markgröninger Nachrichten 07.07.2017 | Evangelische Kirchengemeinde Markgröningen]

Predigt zur Diamantenen Konfirmation 2017 am Sonntag Lätare, 26. März 2017

 

Liebe Konfirmationsjubilare und Angehörige, liebe Gemeinde,

vorne auf den Gottesdienstprogrammen ist das Bild vom Innern unserer Bartholomäuskirche. Es sieht aus, als wäre vor der Kanzel, vor dem Altarraum ein Transparent gespannt über das ganze Mittelschiff von einer Säule zur andern.  Auf dem Transparent große Ornamente um ein Schriftfeld herum, auf dem Schriftfeld der Wochenspruch für diesen Sonntag und die neue Woche als Bibelinschrift im Deutsch einer längst vergangen Zeit:

Warlich, warlich Sag ich euch es sey Dan das das weizen körnlin in die erden falle und sterbe so Bleibt es Allain, wo es aber erstirbt, so bringt es vil Frucht   IOAN 12

Der Spruch findet sich im Chor der Bartholomäuskirche.

Wir sind vor kurzem vom landeskirchlichen Archiv auf diese Inschrift hingewiesen worden, weil die Schriftfelder, die man in Chor der Bartholomäuskirche findet, ein frühes Zeugnis der Umsetzung der Reformation in unserer Region sind.

Vom 8. April bis 10. Juni 2017 wird es im Alten Schloss in Stuttgart eine Ausstellung geben „Luther kommt nach Württemberg“. Dort werden im Ausstellungskatalog auch unsere Inschriften zu sehen sein. Sie stammen aus dem Jahr 1593, vermutlich von einem Markgröninger Maler Meister Hans Jerg Herzog. Darauf deuten die Initialen, die an einem der Schriftfelder zu finden sind.

1593. – Vor 424 Jahren also. Wir können uns solche Zeiträume schlecht vorstellen. Die Reformation – 500 Jahre. Die Diamantene Konfirmation 60 Jahre. Wir erfassen es mit unserem Verstand, aber emotional erfassen wir die Zeiträume anders, spüren eher ob uns etwas nah ist oder weniger nah, egal wie weit oder wie nah in der Vergangenheit. Ja, wir befassen wir uns mit dem, was war, interessieren uns für unsere Geschichte, nehmen sie ernst, wichtig.

Auf der Nordseite des Kirchplatz gab es an den letzten beiden Freitagen einen kleinen archäologischen Einsatz auf der Baustelle unter Aufsicht unseres archäologischen Fachmanns, um etwas über die Geschichte unserer Kirche zu erkunden. Fundamente wurden freigelegt, Bestattungen dokumentiert. Interessante Befunde kamen zum Vorschein. Was hier an dieser Stelle, an der wir uns zum Gottesdienst versammeln, einmal war, bedeutet uns etwas, sagt uns etwas, ist uns nicht gleichgültig.

Ein Baum aber kann 100 Jahre alt sein, 300 Jahre und noch älter. Er weiß es nicht. Er steht da, treibt seine Wurzeln in den Boden, die Äste in den Himmel, könnte erzählen von ganzen Epochen und gibt sein Geheimnis nicht preis.

Ein Bauwerk, zweitausend Jahre. Die Klagemauer in Jerusalem zum Beispiel, Westmauer des letzten Tempels, den Herodes erweitert hat. Die Menschen strömen dorthin um zu beten. Jahrhundertelang waren die Mauer im Schutt der Weltgeschichte verborgen bis man sie freigelegt hat. Sie hat sich nicht selbst geregt.

Was ist das mit uns Menschen, dass uns unsere Geschichte so wichtig ist? Wir interessieren uns für den Anfang allen Seins, für die Schöpfung oder einen Urknall und merken, dass wir uns beides nicht vorstellen können, aber wir forschen daran, wollen es wissen, verstehen.

Wir gehen zurück auf die Zeitenwende, auf vergangene Epochen, die Babylonier mit ihren Gesetzen, die Ägypter mit ihrer Kultur, den Pyramiden, die Römer mit ihren Bauwerken, die Kelten mit ihrem Schmuck, die Staufer, das Mittelalter, die Reformation, die Neuzeit. Immer mehr wollen wir wissen, immer mehr über uns selbst, unsere Herkunft, auch persönlich. Wir feiern Geburtstage, Jubiläen, wir denken zurück an Kindheit und Jugend, an Stationen unseres Lebens, an wichtige Ereignisse. Vor 60 Jahren – die Konfirmation. Die Kirchenrenovierung war ein Jahr vorher abgeschlossen worden. Die Orgel stand nicht mehr im Chor. Die Inschriften konnten gelesen werden, die Bilder waren freigelegt, das Geläute wieder vollständig mit der 4. Glocke, die die Heimkehrer gestiftet hatten. Die schönen farbigen Fenster im Chor und in der Vollandkapelle erzählen seither biblische Geschichten.  – Aber freilich, die Konfirmation feiert man mit 14 Jahren. Da waren Ihnen als Jugendliche noch ganz andere Dinge wichtig: die Angst, beim Aufsagen der Texte einen Fehler zu machen, der Schulabschluss, die Geschenke, die Schulkameraden, die Lehrer, das Fest in der Familie. Nach der Konfirmation, so hatte man gesagt, begann der „Ernst des Lebens“.

Vor zehn Jahren haben wir die Goldene Konfirmation gefeiert. Pfarrer Fröschle, der bei Ihrer Konfirmation Vikar war, war dabei, war aus Alpirsbach gekommen. Damals war auch der Konfirmationsjahrgang 1947 mit in der Kirche zur Diamantenen Konfirmation. Schon wieder 10 Jahre vergangen, nicht spurlos vergangen.

Je älter man wird, desto wichtiger wird es einem, auch Spuren zu hinterlassen: nicht nur darüber nachdenken, was im eigenen Leben Spuren hinterlassen hat, sondern auch darüber, welche Spuren man selbst hinterlässt. Die Lebensarbeit kommt in Blick, das, wo man seinen Beitrag gegeben hat, im Beruf, in der Familie, im Verein, in der Politik, für die Wissenschaft, für die Kunst, für die Musik, für das Handwerk, für Frieden, für Versöhnung, für die Natur, für den Erhalt der Schöpfung, was immer es gewesen sein mag und noch ist, vielleicht war es nur das eine, für einen Menschen da zu sein, der einen gebraucht hat, und auch das wäre ein Lebenswerk.

Von Jesus stammt auch das Wort: Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es retten. – Geheimnis, dass der, der viel von seinem Leben haben will, vielleicht am Ende mit wenig dasteht; ein anderer, der viel gegeben hat, viel von sich gegeben hat, am Ende sagen kann, dass er reich ist.

Nicht das, was wir für uns beanspruchen, für uns auf die Seite bringen, zurücklegen, macht uns wirklich reich, sondern das, was wir von uns investieren konnten, investieren können, ist das, wovon wir eines Tages Früchte sehen.

Das Weizenkorn – für Jesus ein Bild des Sich-in-den-Tod-Gebens. Das Weizenkorn fällt in die Erde, erstirbt und im Ersterben entsteht der neue Halm, entsteht die Frucht.

Geheimnis des Lebens. Wir sind in der Hand Gottes nicht ein Stück Holz, nicht ein Stück Eisen, nicht ein toter Stein, nicht ein Denkmal. Wir sind in der Hand Gottes zu etwas nütze, sind zu gebrauchen, müssen nicht eines Tages zum Alten Eisen gehören, dessen Zeit vorüber ist. Wir sind nicht in unseren guten Jahren zu etwas nütze, erfolgreich, leistungsstark, und dann nicht mehr zu gebrauchen. Das Bild vom Weizenkorn sagt uns, dass dort, wo wir in Gottes Wirken einbezogen sind und darin aufgehen Neues wächst.

Das Bild vom Weizenkorn…

Der Maler, der die Bibelinschriften in die Nordwand des Chors gemalt hat, hat diesem Spruch, so kurz er ist, den zentralen Platz gegeben, als wäre dieses Bibelwort für ihn die Mitte der biblischen Schriften. Es ist ein Wort Jesu und es spricht von ihm, Er spricht von sich selbst, aber das Wort meint auch uns. Es ist ein Wunder, wenn etwas aufgeht von dem, was wir gesät haben. Es ist ein noch größeres Wunder, wenn wir selbst die Saat sein durften, ein Weizenkorn in Gottes Hand – und was daraus wird: auch das ist in Gottes Hand. Amen.

Goldene Konfirmation am Sonntag Invokavit, 5. März 2017 – Predigt in der Bartholomäuskirche Markgröningen

Liebe Goldkonfirmanden, Schulkameraden von damals, liebe Gemeinde,

im Vaterunser beten wir die Bitte „und führe uns nicht in Versuchung!“ Es ist die 6. Bitte.

Heutzutage wird nicht mehr so viel auswendig gelernt im Konfirmandenunterricht wie vor 50 Jahren, aber das Vaterunser können noch alle und werden es weiterhin können, das Vaterunser mit dieser Bitte „und führe uns nicht in Versuchung!“  „Versuchung“ ist auch das Thema des Sonntags Invokavit. Es wird uns in der Predigt begegnen.

Die Gedanken gehen zurück in die Zeit vor 50 Jahren, ins Jahr 1967. Am 5. und 12. März, den beiden Konfirmationssonntagen in Markgröningen, war das Jahr noch weitgehend unverdorben, gemessen an dem, was kommen sollte. Aber schon im Januar waren in Cape Canaveral 3 Astronauten in der Raumkapsel Apollo 1 verbrannt, und das Apollo-Programm wurde für fast zwei Jahre lang ausgesetzt. Der Student Benno Ohnesorg hat in Berlin studiert. Im Juni wurde er von einer Polizeikugel getroffen, was der Auftakt war zu Unruhen von mehr als 10 Jahren in der Bundesrepublik. Im März 1967 war auch noch nicht der 6-Tage-Krieg in den Nachrichten, der dann im Juni ausbrach und dem Nahen Osten keinen Frieden brachte.

Am 4. April 1967 hat Martin Luther King, zuvor ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis, in den USA eine berühmte Rede gehalten: Beyond Vietnam – A Time to break Silence. Über Vietnam – Es ist Zeit das Schweigen zu brechen. Auf den Tag genau ein Jahr später wurde auch er von einer tödlichen Kugel getroffen.

1967

Ich selbst bin ein Jahr später, 1968, konfirmiert worden, der Konfirmandenunterricht hatte nach Ostern begonnen. Ich lag nach einem schweren Fahrradunfall wochenlang im Krankenhaus und erinnere mich mehr daran als an den Start des Konfirmandenunterrichts, den ich verpasst habe. Und man hat dann als Jugendlicher auch noch andere Dinge im Kopf als das Weltgeschehen und den Katechismus. Im Radio liefen die Schlager. Nr. 1 war in diesen Wochen im März 67, was zuvor schon in den USA und in England die Nr. 1 gewesen war und heute in der SWR-Hitparade nicht mehr unter die ersten 2000 kommt: „I’m a believer“ von den Monkees. A believer – einer, der es auf einmal glauben kann:

Ich dachte, Liebe gäbe es nur im Märchen, sie wäre etwas für alle andern, aber nicht für mich. Liebe hat mich nie erreicht, so sah es aus. Enttäuschung war das Ende aller meiner Träume.
Dann hab ich ihr ins Gesicht gesehen, jetzt kann ich’s glauben.
Keine Spur von Zweifel hab ich mehr.
Ich bin verliebt, ich kann es glauben, ich könnte sie niemals verlassen.

Da entdeckt einer die Liebe und wird zum „believer“, zu einem, der glaubt, der an die Liebe glaubt und sie nicht mehr für ein Märchen hält.

Im Konfirmandenunterricht hat man auch gelernt, was Glauben heißt. Man hat es nicht mit Schlagern, sondern mit dem Katechismus gelernt, mit dem, was Martin Luther und Johannes Brenz aufgeschrieben haben. Man hat gelernt, dass glauben heißt, „dass ich in Jesus Christus Gott als meinen Vater erkenne und liebe und all mein Vertrauen auf sein Wort setze, ihm freudig gehorche und zuversichtlich zu ihm bete. Ohne Glauben ist’s unmöglich Gott zu gefallen.“ Lernen mussten es alle, irgendjemand hat es bei der Konfirmation vorgetragen. Alle haben zugehört, zugesehen. Erleichterung als es geschafft war. Dann die Verpflichtung, die Einsegnung. 70 Jugendliche wurden am 5. März eingesegnet, 76 am 12. März.

Was ist geblieben von dem, was glauben heißt, von dem Gelernten? Die Sprache der Menschen, der Jugendlichen hatte sich schon verändert. Das „ihm freudig gehorchen“ fällt mit 13, 14 Jahren schwer, „in Jesus Christus Gott als seinen Vater erkennen und lieben und all sein Vertrauen auf sein Wort setzen“, das ist eine Erklärung des Glaubens, die man noch einmal erklären muss. Und doch hat man’s geglaubt oder akzeptiert oder einfach stehen lassen.

Den Schlagertext hat man besser behalten – und vielleicht auch erlebt, dass die Liebe die einen erreicht, die anderen nicht.

  1. Strophe:

Ich dachte Liebe, das wäre mehr oder weniger etwas Gegebenes, etwas von der Art: je mehr ich gebe, desto weniger bekomme ich. Was hat es für einen Sinn, sich da zu versuchen? Du bekommst nur Schmerz. Wenn ich Sonne gebraucht hätte, hat es geregnet.

Millionenfach wurde das gespielt, millionenfach verkauft, lange hat sich der Song gehalten, den man unter diesem Titel findet: I’m a believer! Ja, ich bin auch ein Believer, einer, der glaubt, auch wenn ich meinen Song etwas anders schreiben würde.

Goldene Konfirmation:

Wiedersehen nach 5 Jahrzehnten. Die meisten sehen sich heute nicht zum ersten Mal wieder seit der Konfirmation, aber bei manchen ist es vielleicht lange her, dass sie sich gesehen haben.

Vom März 1967 bis zum März 2017 ist viel passiert, viel mit uns, viel in Markgröningen, viel in der Welt, viel in der Gesellschaft, und wenn wir es heute Jugendlichen erzählen, die 13, 14 sind, interessieren auch sie sich für andere Dinge.

1967 haben sich die Dinge ereignet, die ich eingangs erwähnt habe. Für einige von Ihnen, den Konfirmanden, begann vielleicht schon nach den Sommerferien die Berufsausbildung, andere sind noch weiter zur Schule gegangen.

Die Konfirmation wurde zuhause gefeiert oder in der Wirtschaft, die Verwandten und Nachbarn haben Geschenke gebracht oder Geld. Man konnte sich etwas leisten, ein Fahrrad, eine Uhr, einen Fotoapparat, ein Kofferradio. Oder man hat das Geld aufs Sparbuch getan. Man hat sich bedankt für die Geschenke und Kuchen ausgetragen. Konfirmation war ein hohes Fest, danach war man konfirmiert, hat sich erwachsen gefühlt. Kleid, Anzug und Schuhe haben schon bald nicht mehr gepasst. In der Kirchengemeinde gab es noch die Christenlehre, freiwillig. Irgendwann hatten alle die Schulzeit hinter sich, die ersten haben geheiratet, Kinder sind geboren, die einen sind in Markgröningen geblieben, die andern hat es anderswohin verschlagen. 1977 – der deutsche Herbst, die Entführung und Ermordung von Martin Schleyer, die Entführung der Lufthansa Landshut, die Befreiung, der Selbstmord der RAF-Gefangenen drüben in Stammheim. Das ist nicht weit von hier, nur wenige Kilometer.

13 Jahre später – 1990 haben die Scorpions das Lied herausgebracht Wind of Change. Es war ein sehr, sehr hoffnungsvolles Lied von Veränderung, von Versöhnung, von Zueinanderfinden. Wir haben es als Musikeinspielung am Freitag auf dem Friedhof gehört, als wir von Erwin K. Abschied nehmen mussten, der auch zum Jahrgang gehört hat, der vor 50 Jahren konfirmiert wurde, der noch so gerne bei der Goldenen Konfirmation dabei gewesen wäre und es nicht mehr geschafft hat. Es ist auch nicht selbstverständlich, heute dabei sein zu dürfen.

Wind of Change. Barak Obama hat in seinem Wahlkampf noch gesagt: Change is possible – Veränderung ist möglich, hat noch daran geglaubt. Heute macht uns das Angst, was sich alles verändert, was alles zerfließt, auseinanderläuft, davonschwimmt, einstürzt.

Und wir ahnen, dass die Bitte

Und führe uns nicht in Versuchung

etwas anderes meint als das, was in der Werbung und im Volksmund eine Versuchung genannt wird. Es ist nicht die Bitte, dass man am Süßigkeiten Regal nicht in Versuchung gerät, es ist nicht die Bitte, dass man nicht widerstehen kann, wenn es unwiderstehlich scheint. Es ist um vieles ernster.

Und führe uns nicht in Versuchung,

nicht in das hinein, was uns Angst macht,
nicht in das hinein, was wir nicht mehr bewältigen,
nicht in Versuchung – nicht in den Abgrund, nicht einmal an den Rand des Abgrunds.

Jener Predigttext, den ich heute übergangen habe, wäre die Geschichte vom Sündenfall gewesen, die Geschichte davon, dass den Menschen die Versuchung selbst im Paradies ereilt: Eva nimmt sich die Frucht, den Apfel, gibt ihn Adam. Auch das ist Versuchung, nach mehr zu greifen als einem zusteht. Aber das ist mit der Bitte im Vaterunser nicht gemeint.

In der Lesung haben wir die Geschichte von Jesu Versuchung gehört (Matth. 4): Mach diese Steine zu Brot…, Stürze Dich in die Tiefe, die Engel werden Dich tragen…, gewinne Macht, indem Du den Teufel anbetest…

Das sind Versuchungen anderer Kategorie als die Versuchung im Paradies. Dort war es die Versuchung, das Verbot infrage zu stellen: sollte Gott gesagt haben? Hier ist es die Versuchung, sich in den Mittelpunkt zu stellen, das Spiel mit den Mächten dieser Welt beherrschen, in Rausch zu geraten, die Fäden in der Hand halten. Es sind viele, die dem erliegen und sich verstricken in dem, was sie zu beherrschen meinen, während es längst so ist, dass sie selbst beherrscht sind von dem Spiel, das sie angefangen haben und das sie in Bann gezogen hat.

Die Bitte aber im Vaterunser

Und führe uns nicht in Versuchung

ist auch die Bitte, nicht in Gefahr zu geraten zu verleugnen, was man nie verleugnen wollte, ist auch die Bitte sich nicht erpressen lassen zu müssen,

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Dass diese Bitte gebetet wird, führt uns vor Augen, dass in dieser Welt manches im Argen liegt, vieles im Argen liegt und wir aufgefordert und gerufen sind, Frieden und Versöhnung zu stiften, Wunden zu heilen, Gräben zuzuschütten, Brücken zu bauen, Werkzeuge Gottes zu sein zum Guten, denn es heißt ja nicht: verschone uns von dem Bösen, sondern erlöse uns und gebrauche uns zum Werk des Guten! Amen.

ZEITUMSTELLUNG IM OKTOBER

Der letzte Sonntag im Oktober hat wieder 25 Stunden, und wir sind schnell dabei zu sagen, wir hätten dann mehr Zeit. Was aber ist mehr Zeit? Mehr Sonntag? Mehr Zeit zum Ausschlafen? Mehr Zeit zum Frühstücken? Mehr freie Zeit? Mehr Zeit für die Familie, Kinder, Eltern, Verwandte, mehr Zeit ein Buch zu lesen oder einen Spaziergang zu machen? Eine Stunde „mehr Zeit“ ist auf einmal wieder wenig, sehr wenig, hätten wir das doch gerne viel öfter: eine Stunde ungeplante, ja unverplante Zeit.

6327582906_e3348c3dae_oMir kommen die beiden Reisen in der Erinnerung, die ich in die Wüste Sahara mitmachen durfte, wo wir die Tage nicht vom Wecker-Klingeln bis zu den Tagesthemen, sondern von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erlebt haben, wo wir keine Uhren gebraucht haben, sondern Tag und Nacht sehr ursprünglich erlebt haben. Eine Stunde mehr am Tag hätte sich von unserer Reisegruppe gar niemand gewünscht. Wir hatten  einfach das Gefühl, dass die Zeit nicht an uns vorbeiläuft oder uns gar davonläuft, sondern dass wir im Rhythmus der Zeit mitgehen. Solche Erfahrungen sind wichtig, und man muss nicht unbedingt in die Wüste reisen, um sie machen. Freilich: aus dem Alltag heraustreten muss man schon.

Der Designer Scott Thrift hat eine neue Uhr entwickelt, die „Today-Clock“ oder „Heute-Uhr“. Sie hat ein rundes Zifferblatt ohne weitere Einteilungen, nur sanfte Übergänge, keine Zahlen. Und sie hat keine zwei, sondern nur einen Zeiger, der 24 Stunden braucht, um einmal durchs Zifferblatt zu gehen. Stunden, halbe Stunden, Viertelstunden oder gar Minuten werden nicht angezeigt, nur der Fluss der Zeit bildet sich auf dieser Uhr ab. „Modischer Schnickschnack“, werden manche sagen, „eine schöne Idee“ die andern. Dass an einer Uhr experimentiert wird, zeigt, dass wir mit unserer Zeiteinteilung noch nicht eins geworden sind. Die eine Stunde, um die der Sonntag sich verlängert, ist geschenkte Zeit. Das gilt aber auch schon für die andern 24 Stunden. Alle Zeit ist geschenkte Zeit. Lassen wir uns einfach von der zusätzlichen Stunde daran erinnern, dass die Zeit ein kostbares Geschenk ist, ein Geschenk des Himmels.  Ihr Pfr. Traugott Plieninger

Die Liebe selbst ist aller Mühe wert! Predigt zur Goldenen Konfirmation am Sonntag Judika, 13. März 2016

Predigttext: Joh. 15,9-17
Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich immer die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Ich sage euch das, damit meine Freude euch erfüllt und eure Freude vollkommen ist. Liebt einander, wie ich euch geliebt habe; das ist mein Gebot. Niemand liebt seine Freunde mehr als der, der sein Leben für sie hergibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch Freunde und nicht mehr Diener. Denn ein Diener weiß nicht, was sein Herr tut; ich aber habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt: Ich habe euch dazu bestimmt, zu gehen und Frucht zu tragen – Frucht, die Bestand hat. Wenn ihr dann den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es euch geben, was immer es auch sei. Einander zu lieben – das ist das Gebot, das ich euch gebe.«

Liebe Goldkonfirmanden, liebe Gemeinde,
es klingt wie die Erinnerung an ein Vermächtnis. – „Was hat er uns gesagt, damals?“ – „Bleibt in der Liebe!“ Und er hat gesagt, dass das die Mitte von allem ist: „Freundschaft!“ Auch das hat er gesagt, dass man sich für seine Freunde hergibt. Und: „Vergesst nicht, den Vater im Himmel zu bitten!“

Und das nun zur Goldenen Konfirmation!

Konfirmation 1966-03-13 Konfirmation 1966-03-20Konfirmation 1966-03-13 SimultankircheDie Bilder sind wichtig, die Bilder auf den Gottesdienstprogrammen, die Konfirmationsbilder oder die Klassenbilder, auf denen man sich wiedererkennt und andere wiedererkennt oder erst einmal überlegen muss, wer eigentlich wer ist und an wen man sich sofort und an wen man sich nur ganz allmählich erinnert. Damals war man so nah beieinander, dass man auf ein Bild gepasst hat. Schöne Frisuren. Schöne Kleider. Die Haare der Mädchen alle kurz. Die Haare der Buben immer noch nicht lang. Eine politische Partei hatte das genau in diesen Jahren zum ihrem Wahlkampfslogan gemacht: „Wir schneiden die alten Zöpfe ab!“ und war damals damit recht erfolgreich. Zwei, drei Wochen nach der Konfirmation, am ersten April 1966 begannen die Osterferien, danach das erste Kurzschuljahr, für manche wahrscheinlich schon das letzte Schuljahr, das bis 30. November ging. Manche der Schulkameraden verliert man aus den Augen, mit manchen ist man lange gemeinsam unterwegs, manche trifft man wieder. Konfirmation war auch so etwas wie „entlassen werden!“ im positiven Sinne. Der oder die „kommt aus dr Schul“ hat es früher geheißen, und gemeint war die Konfirmation.

Wie in diesem Predigttext: „Bleibt in meiner Liebe!“ –  „Ihr werdet es selbst richten müssen!“ Am Anfang sind da die Eltern, die Lehrer, dann die Pfarrer, mehr und mehr löst man sich, geht seinen Weg, lernt einen Beruf, bekommt Verantwortung, bringt es zu etwas. Manche bringen es weiter, manche nicht so weit.

In der Schriftlesung, die wir gehört haben (Markus 10,35-45), ist die Frage angeschnitten, wie weit man es bringen kann im Leben, wenn man die richtigen Beziehungen hat: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.“ Das wäre doch das Ziel aller Ziele, mitregieren an höchster Stelle, nicht mehr schaffen müssen, bloß noch Entscheidungsträger sein, keinen Widerspruch fürchten müssen. Repräsentieren. Interessant, dass diese Anfrage im Neuen Testament mit überliefert ist, die dann mit dem Hinweis auf den Weg, den Jesus zu gehen hatte, beantwortet wird: Könnt Ihr das auch, den untersten Weg gehen?

Ja, wie weit kann man es bringen im Leben? Und dann kommen ungefragt die Momente, die einem zu schaffen machen oder es sind gar nicht nur Momente, sondern es sind Belastungen, die man zu tragen bekommt, was auch immer.

Die Kirche – Bewahrerin des Glaubens an Jesus Christus. Vielleicht wird sie den einen zum Halt, den andern zum Ärgernis, vielen vielleicht bedeutungslos oder fremd: es ist kein Zwang mehr, Gott sei Dank! Aber ist da noch etwas zu spüren, was einem nachgehen könnte? Ist da noch etwas, womit man noch nicht fertig ist, womit man noch etwas anfangen kann? Was hat einem die Kirche mitgegeben, was hat man selbst beigetragen?
Und welche Vermächtnisse hat man sonst noch bekommen im Leben? Was hat man von den Eltern mitbekommen, mitgenommen? Was von den Lehrerinnen und Lehrern, was hat bei den Weichenstellungen im Leben einen Ausschlag gegeben? Wie hat man die runden Geburtstage erlebt? Volljährig damals noch mit 21, der 30. Geburtstag, der 40., der 50., der 60.?

Glückliche Momente, Stunden, Tage, Lebensabschnitte. Schwierige Momente, Stunden, Tage, Lebensabschnitte. Erfolg und Misserfolg und viel, viel Alltag. Manchmal die Frage: was tu ich mir da an? Könnte nicht alles ein bisschen einfacher sein? ⇒ „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt: Ich habe euch dazu bestimmt, zu gehen und Frucht zu tragen – Frucht, die Bestand hat.“ – Wirklich, vieles im Leben hat man sich nicht selbst ausgesucht und steckt doch drin und gibt sein Bestes. Woher kommt immer wieder die Kraft? Schön, wenn man sehen darf, dass etwas, in das man vielleicht sein Herzblut gegeben hat, Bestand hat. Schlimm, wenn einem etwas zwischen den Händen zerrinnt. Oder kann auch das für etwas gut sein?

Man wird älter. In zwei Jahren gehöre ich dann auch selbst zum Jahrgang der Goldenen Konfirmation. Es gibt, wenn man die Jahre am inneren Auge vorbeiziehen lässt vieles, wofür man dankbar sein darf. Und worauf ist es angekommen? Worauf kommt es immer noch an? »Einander zu lieben – das ist das Gebot, das ich euch gebe!« Und es heißt nicht: »Einander zu lieben – das ist das Gefühl, auf das es ankommt«. »Gebot!« Weil es einem nicht immer zufällt, dass man in der Liebe bleibt und die Liebe nicht verlässt. Es ist manchmal ein Mühen um die Liebe, Liebesmüh; und es ist, als würde Jesus sagen, dass Liebesmüh niemals vergeblich ist. Freilich wird man fragen müssen, was von Fall zu Fall der Liebe dient und was der Mühe wert ist. Die Liebe selbst ist aller Mühe wert. Amen.

Lieblingsplatz – Predigt zur Konfirmation am 24. April 2016

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,
„Mein Lieblingsplatz.“ Das war unter anderem gefragt in Euren Steckbriefen, die Ihr am Anfang der Konfi-Zeit ausgefüllt habt, und niemand hat dieses Feld auf dem Steckbrief leer gelassen.

Konfirmandensteckbrief2015f_A5Ich hab mich noch einmal ganz intensiv mit Euren Antworten beschäftigt:  Es gibt eine Hauptrichtung. Der Lieblingsplatz muss ein Platz sein, wo Ihr so sein dürft, wie Ihr seid, wo Ihr Euch so geben dürft, wie’s Euch geht, wo kein Druck herrscht, kein Stress, wo Ihr nicht unter Beobachtung steht. Entweder, wo Ihr ganz für Euch seid: irgendwo draußen, auf einer Bank am Feldweg, im Garten oder am Meer, in Schweden am Strand oder in Kroatien. Oder dort, wo Ihr mit jemandem zusammen seid, wo’s Euch nur gut tut: bei der Oma oder bei Freunden – oder doch: in Eurem Zimmer. Vier von Euch haben was vom Bett geschrieben.
Aber natürlich gibt’s für alle viele Lieblingsplätze und es gibt Plätze, die da nicht dazu gehören. Niemand hat „Schule“ eingetragen, niemand hat sonst was eingetragen, wo man mit Leistung gefordert ist. „Kirche“ steht auch bei niemand, aber das war ja am Anfang vom Konfi-Jahr. Ich würde für mich natürlich schon die Bartholomäuskirche zu meinen Lieblingsplätzen zählen, aber ich hab ja einen Schlüssel und kann ganz alleine in die Kirche gehen.
Jeder braucht die Plätze, wo niemand etwas von einem will, wo man ganz sein darf, wer man ist, und man braucht die Momente, bei denen man auftankt, Kraft schöpft, sich regeneriert. Man kann nicht immer nur funktionieren.
Vielleicht, wenn Ihr die Karte heute noch einmal ausfüllen würdet, würden sich die Antworten leicht verändern. Vielleicht ist ein neuer Lieblingsplatz dazugekommen, vielleicht hat sich ein Lieblingsplatz verbessert, verschlechtert. Vielleicht hat sich in Eurem Lebensgefühl etwas verändert.
Das Thema, wo unser Platz ist, ist ein Lebensthema.

Der schönste Platz im Weltall ist die Erde, mit der die Menschen sehr rücksichtslos umgehen. Im Weltall herrscht weit und breit nur Leere. Man würde die Sterne, weit entfernte Himmelskörper ja nicht sehen, wenn’s bis zu ihnen hin nicht komplett leer wäre. Zum Mond fliegt man drei Tage, und kann es dort nicht aushalten, zum Mars mehrere Monate und kann es dort nicht aushalten. Der schönste Platz im Weltall ist die Erde, die wir mit anderen Menschen, mit anderen Geschöpfen teilen. Die Erde ist unser Platz, den wir uns nicht selbst gegeben haben. Sie gehört uns nicht! Wir sind hier Gäste.

Was tun auf der Erde? Wohin gehen auf der Erde?
Wo ist unser Platz auf der Erde?

Und nun sage ich Euch ein kurzes Wort aus der Bibel: Folge mir nach! Mit dieser Aufforderung hat Jesus seine Jünger berufen und sie sind ihm gefolgt. Sie haben ihren Platz gefunden, indem sie mitgegangen sind, mit Jesus mitgegangen sind. Sie haben erlebt wie er zu den Leuten geredet hat, sie haben erlebt wie er Kranke geheilt hat, sie haben erlebt, wie er die Hungrigen gespeist hat und wie er mit seinen Gegnern diskutiert und gestritten hat. Sie haben ihren Platz gefunden, wo sie ihm dienen konnten oder in seinem Auftrag handeln konnten. Sie sind, glaubt man der Überlieferung, weit herumgekommen in der Welt.

Wo Euer Platz eines Tages sein wird, was Eure Aufgabe sein wird, ist nicht egal, denn Ihr seid wichtig. Euer Platz in Eurer Familie, Euer Platz in der Gesellschaft, Euer Platz in der Kirche, Euer Platz in der Welt. – Eure Aufgabe in Eurer Familie, Eure Aufgabe im Beruf, in der Gesellschaft, Eure Aufgabe in der Kirche: Ihr werdet gebraucht und ganz bestimmt nicht nur als Steuerzahler, sondern mit Euren Begabungen, mit Eurem Wissen, mit Euren Besonderheiten. Ihr werdet gebraucht, Ihr sollt Euren Platz ausfüllen, Euren Beitrag geben, und es wäre schön und wichtig, wenn das mit der Nachfolge Jesu in Einklang zu bringen wäre. Wenn Euer Glaube dann ein gelebter Glaube ist, Euer Christentum nicht eine reine Äußerlichkeit, Eure Nachfolge wirklich eine eigene Entscheidung und nicht nur ein Hinterherlaufen.

Und glaubt mir: Eure Lieblingsplätze wird es weiterhin geben und Ihr werdet sie weiterhin brauchen. Einmal heißt es in einem Psalm: Du stellst meine Füße auf weiten Raum. So hat dieser Mensch Gott erfahren, als einen, der ihm viel Platz gibt. Dieser Jemand hat seinen Standpunkt in einer großen Weite gefunden, dort, wo es, Gott sei Dank, nicht eng zugeht. Amen.

VERTRAUEN NACH GANZ OBEN… Predigt am Sonntag Invokavit

Predigttext: Hebr. 4,14-16 (Ü: In Anlehnung an „Neue Genfer Übersetzung“)

Weil wir nun aber einen großen Hohenpriester haben, der den ganzen Himmel ´bis hin zum Thron Gottes` durchschritten hat – Jesus, den Sohn Gottes –, wollen wir entschlossen an unserem Bekenntnis zu ihm festhalten. Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte. Vielmehr war er – genau wie wir – Versuchungen aller Art ausgesetzt, ´allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass` er ohne Sünde blieb.

Lasst uns also unerschrocken, freimütig und zuversichtlich vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.

Liebe Gemeinde,

für die Leserschaft des Hebräerbriefs war die Gestalt des Hohenpriesters vielleicht noch vorstellbar. Der oberste der Priester am Jerusalemer Tempel, gekleidet in prächtige Gewänder an den Festtagen. In einem frühchristlichen Brief ist die Erinnerung an diese Institution noch lebendig: „Diese Erscheinung ruft Ehrfurcht und Staunen hervor, so dass man sich wie in eine andere Welt versetzt glaubt.“

Vielleicht muss man an den Papst denken, an die Begegnung des Papstes mit dem Oberhaupt der russisch orthodoxen Kirche dieser Tag in Kuba, Würdenträger auf die die Blicke der Menschen gerichtet sind. Die jeweils Gläubigen dieser oder jener Konfession, und nicht nur sie, begehren es, diesen Oberhäuptern nahe zu kommen, etwas von ihrer Ausstrahlung zu verspüren.

Den Christen der frühen Gemeinden, die keinen Hohenpriester hatten, überhaupt noch kaum Ämter, schon gar keine Messgewänder, Fest- und Feiertagsgewänder und keine großen Riten, ihnen wird mit diesem Abschnitt gesagt, zu wem sie aufblicken können und wer ihr Hohepriester ist:  Jesus, der Sohn Gottes. „Lasst uns festhalten an unserem Bekenntnis zu ihm.“ Offenbar war es manchen zu nüchtern geworden in den Versammlungen, zu substanzlos, zu unattraktiv. Sie haben sich zurückgezogen aus den christlichen Gemeinden. Eindringlich redet der Briefschreiber seinen Adressaten zu Herzen. „Lasst uns festhalten am Bekenntnis zu Jesus, dem Sohn Gottes!“ Er wird beschrieben als der, der nicht nur gelegentlich prächtig gekleidet in den Tempel einzieht und einmal im Jahr am Versöhnungstag die Schritte bis ins Allerheiligste des Tempels gehen durfte, sondern der „den Himmel“ durchschritten hat bis zum Thron Gottes. Dem Schreiber des Briefs gilt das mehr als jede menschliche Gestalt, zu der man aufblicken mag. Aber freilich, dass wir jemanden brauchen, zu dem wir aufblicken können, das ist keine Frage.

Zu jemandem aufblicken, weil man selbst unten ist.

Zu jemandem aufblicken, weil man sich selbst nicht aufrichten kann.

Zu jemandem aufblicken, weil man vielleicht verstört ist.

Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte“
– in dem, was uns zu schaffen macht;
– in dem, wo wir verunsichert sind,
einer, zu dem wir aufblicken können, einer, zu dem wir aufblicken sollen,
einer, dem nichts Menschliches fremd ist, der all dem ausgesetzt war, was Menschen zum Straucheln bringt, der darum mitfühlen kann.

Ich denke an die Bilder, die uns das Fernsehen diese Woche gezeigt hat, Menschen, die trauern an der Unfallstelle des Zugunglücks in Bayern,
Flüchtlinge, die vor verschlossenen Grenzen stehen, an Zäunen,
ratlose Gesichter von Regierungschefs und hochrangigen Politikern bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder wo immer sie sich begegnen, um Probleme zu lösen, die sich kaum lösen lassen,
verunsicherte Menschen vielerorts, die nicht mehr wissen, was sie denken sollen, andere, die irgendwo anpacken und Hand anlegen, die helfen bis zur Erschöpfung, aber was kommt nach der Erschöpfung?
Fernsehjournalisten, Radiomoderatoren, Presseleute, die Bilder und Meinungen einfangen und um die Welt schicken, die ihr Mikrophon hinhalten und irgendjemand sagt irgendetwas, was andere auch schon einmal gesagt haben, gehört haben, was nichts Neues ist. Der Bundespräsident in Afrika, Mali, dankt den deutschen Soldaten und macht ihnen Mut. Sie sind nicht dort als Touristen, sondern in ernster Mission. Zu wem sollen wir, dürfen wir aufblicken?

Vielleicht ahnen wir, was uns mit diesem Predigttext vom Hohenpriester Jesus, der mitleiden kann, gesagt werden soll. Vielleicht können wir uns etwas sagen lassen von diesem Predigttext zum ersten Sonntag der Passionszeit, Invokavit, der einmal im Königreich Württemberg ein Landesbußtag war, wohl gemerkt ein Landes-Bußtag für die Bürger des Landes, nicht nur für die Kirchgänger, ein Tag der Einkehr, des Gebets, der Besinnung. Es würde uns wahrhaft gut tun. Aber dann kämen ja gleich die Fragen, was erlaubt wäre an so einem Tag, und insofern – lassen wir es lieber!

Vielleicht können wir uns sagen lassen, dass das auch von uns in Anspruch genommen werden kann: aufblicken zu Jesus, dem Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat. Er „…ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte.“

Und dann:

„Lasst uns also unerschrocken, freimütig und zuversichtlich vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.“

Irgendwie, denke ich, da steckt Vertrauen drin. Vertrauen nach ganz oben, das wir teilen sollten mit allen, die sich Sorgen machen, „…dass er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.“ Amen.

14.02.2016, Bartholomäuskirche Markgröningen

Mach das, was Du kannst! Predigt am 2. Advent 2015 (Jakobus 5,7-8)

Predigttext: Jakobus 5,7-8

Übt euch in Geduld, Brüder und Schwestern, bis der Herr wiederkommt! Seht, wie der Bauer auf die köstliche Frucht seines Ackers wartet: Er übt sich in Geduld – so lange, bis Frühregen und Spätregen gefallen sind. So sollt auch ihr euch in Geduld üben und eure Herzen stärken. Das Kommen des Herrn steht nahe bevor.

Predigt

Liebe Gemeinde,

Jakobus, ein Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus“, so stellt sich der Autor vor, der diesen Brief geschrieben hat. Es hat zu seiner Zeit noch keinen ersten, zweiten, dritten und vierten Advent gegeben. Jakobus wäre wahrscheinlich entsetzt, wenn er hören würde, dass wir von seinem Brief, immerhin 5 Kapitel, nur zwei Verse seiner Schlussbemerkungen als Predigttext bekommen. „Dann lest doch mal den ganzen Brief!“ würde er uns sagen, und wir würden als Leser seines Briefes spüren, dass ihm die Gerechtigkeit ein zentrales Anliegen ist, soziale Gerechtigkeit sagen wir heute, die Armen, die Bedürftigen, und dass man nicht in den Tag hineinlebt, sondern seine Zeit nützt, dass man nicht redet, was einem gerade einfällt, sondern seine Zunge zügeln kann, dass man für die Kranken und mit den Kranken betet und nicht nur sagt: wird schon wieder gut, dass man sich nicht nur seines Glaubens rühmt, sondern seinem Glauben auch Taten folgen lässt. „Der Glaube ohne Werke ist tot“, schreibt er.

Und nun: „Übt euch in Geduld, Brüder und Schwestern, bis der Herr wiederkommt!“

Das ist die große Erwartung der ersten Christen, dass der Herr wiederkommt – und allem Leiden ein Ende setzt, dass er Gerechtigkeit heraufführt, dass er die Seufzenden erlöst. Die große Erwartung der ersten Christen ist nicht der Heiligabend und das Weihnachtsfest alle Jahre wieder, sondern die Vollendung des Reiches Gottes. Darauf hoffen sie.

Und wenn wir heute Advent feiern, den ersten, den zweiten, den dritten, den vierten Advent, dann auch, damit wir weiter denken und hoffen als bis Weihnachten, weiter als bis zur Bescherung, so willkommen und schön sie ist. Advent – die Hoffnung dass eines Tages alles vollendet und alles gut ist.

Jakobus schreibt von Geduld. Ich verstehe es so, dass er die Stimmung nicht anheizt und nicht aufheizt, nicht die Armen gegen die Reichen aufwiegelt, obwohl er den Reichen ins Gewissen redet. Er sieht eine Menge Unrecht und Ungerechtigkeit, Ungereimtheiten, eine Menge Unkorrektheiten, er sieht einen Glauben, wo Menschen es sich im Glauben bequem machen und findet äußerst klare Worte dagegen, nennt Missstände beim Namen. Aber er mahnt zur auch Geduld.

Beklagt euch nicht übereinander“, schreibt er. Die Standhaftigkeit preist er und das klare Wort, die Offenheit, die Ehrlichkeit, das Schuldbekenntnis, statt alles unter den Teppich zu kehren.

Wie geht es uns damit? Wo zur Geduld gerufen wird, stehen die Dinge ja noch nicht zum Guten, ist der Tag noch nicht perfekt. Wir hätten so viele Probleme gerne gelöst. Wir würden gerne sehen, dass sich die Dinge wieder zum Guten wenden, dass die Klimakonferenz in Paris ein Aufbruch ist, der Ergebnisse hat, die spürbar gut tun, der Klimawandel in einem Jahr gestoppt… Wir würden gerne hören, dass die Flugzeugträger von der syrischen Mittelmeerküste umdrehen, weil dort Frieden ist und die Flüchtlinge zurückkehren und ihr Land aufbauen. Wir würden gerne in den Nachrichten hören, dass Waffen vernichtet werden statt in die falschen Hände zu gelangen und genug Geld zusammenkommt, damit die Hungernden wieder Essenrationen bekommen.

Geduld. Geduld heißt auch: nicht aufgeben! Nicht aufgeben und nicht falsch reagieren! Am meisten Geduld brauchen wir mit uns selbst. Irgendeine Unruhe scheint uns täglich zu ergreifen, dass uns das Wort Geduld so unangenehm ist:

Noch 18 Türchen im Adventskalender bis zum Heiligabend, noch zweieinhalb Wochen, in denen wir einkaufen, einpacken, Gutsle backen, den Christbaum besorgen, Weihnachtskarten verschicken, Besuche machen, an Weihnachtsfeiern teilnehmen – und kaum zur Ruhe kommen. Was würde dieser Jakobus uns heute schreiben?

Ich ahne, er würde uns ins Kloster schicken oder auf eine Pilgerreise, würde uns dringend raten uns um unserem inneren Kompass zu kümmern, würde uns raten, das Gebet für uns zu entdecken, aber nicht darin zu verkrampfen, weniger zu reden, aber dafür klar. Und wir würden dann sagen: „Ja, Jakobus, Du hast Recht, aber das schaffen wir nicht! Es ist, was wir uns schon so oft vorgenommen haben, und wir kommen nicht weit. Es ist was uns schon so oft eingeleuchtet hat, aber wir stehen uns selbst im Weg!“ – Wie dem heiligen Christophorus geht es uns[1], der Christus dienen wollte, aber gesagt hat, er könne nicht fasten, der Christus dienen wollte, aber zugeben musste, das Beten liegt ihm nicht. „Gibt es keinen anderen Weg?“, fragt er den Einsiedler. Und jener Einsiedler, der ihn im Dienst Christi unterwiesen hat, hat ihn nicht weggeschickt. Er hat ihm gesagt: mach das, was Du kannst, geh zum Fluss und hilf den Leuten, ans andere Ufer zu gelangen. So ist er ein Heiliger geworden, indem er das getan hat, was er tun konnte und hat nicht die Welt gerettet, aber ein paar Menschen ans andere Ufer gebracht, hat nicht die Welt erlöst, aber ein paar sind nicht ertrunken, weil er da war. Die Geduld, die nötig war, hat er bekommen und einen wichtigen Dienst für die getan, die auf dem Weg waren wie die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen.

Eines Tages war es ein Kind, das er zu tragen hatte, und die Legende sagt, dass es ihm fast so schwer wurde, als trüge er die ganze Last der Welt auf seinen Schultern. Als er das Kind gerettet hatte, hat es sich ihm offenbart als Christus, der Herr der Welt. „Christophorus“ wurde er genannt: „der, der Christus trägt“. Vier Darstellungen von ihm haben wir in unserer Kirche. Christophorus war wirklich ein adventlicher Mensch. Er war unterwegs, er war auf der Suche, er ist angekommen. Amen.

[1] Jacobus de Voragine, Die Legenda aurea, Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, 1955. Lizenzausgabe für die wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, S. 498ff

Lazarus ist krank!

Predigt am
16. Sonntag n.Trinitatis,
20. September 2015

Predigttext: Joh 11,1(2)3.17-27.(28-38a)38b-45

1Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta.

(2Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder La zarus war krank.)

3Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.

17Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. 18Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt 19Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. 20Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen. 21Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 22Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; 26und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.

(28Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria und sprach heimlich zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich. 29Als Maria das hörte, stand sie eilends auf und kam zu ihm. 30Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war. 31Als die Juden, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria eilends aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten: Sie geht zum Grab, um dort zu weinen. 32Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 33Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und erbebte 34und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh __! 35Und Jesus gingen die Augen über. 36Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt! 37Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste? 38Da ergrimmte Jesus abermals und)

(Jesus) kommt zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor. 39Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. 40Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! 45Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. Johannes 11,1(2)3.17-27(28-38a)38b-45

Predigt

Liebe Gemeinde,
Lazarus ist krank. Um ihn steht es nicht gut. Das wird nicht von allein. Die letzte Hoffnung, dass Jesus kommt.

Wenn ich an Lazarus denke, fällt mir so vieles ein, was krank ist, was nicht wieder von allein wird, was düster aussieht. Wenn’s nur nicht wir selbst sind, oder die Kirche, die Kirchengemeinde. Diese Woche kam ein Anruf von einer Mitarbeiterin im Kindergarten: hier ist es nicht fünf vor 12, hier ist es schon 5 nach 12. Wir können nicht mehr. Personalknappheit – und man kann nicht sagen: liebe Eltern, lasst Eure Kinder doch mal eine Woche zuhause, oder es gibt ein paar Tage kein Mittagessen. Zuhause ist ja auch nicht unbedingt alles entspannt.

Im Sozialen geht’s eng zu, ob in den Pflegediensten, in den Pflegeheimen, in den Häusern mit Pflegebedürftigen, in den Familien, wo wir hinschauen… Lazarus ist krank. Es ist das, was man vollends gar nicht brauchen kann, wenn auch noch die guten Leute ausfallen, die, auf die bisher Verlass war, die man anrufen konnte und um etwas bitten konnte, die eingesprungen sind und beigesprungen sind. Jetzt brauchen wir in Markgröningen einen Seniorenrat. Aber wer soll dafür kandidieren? Lazarus ist krank, den man immer fragen konnte, der Freund von Jesus.

Da muss ein Wunder her! Den brauchen wir doch, der muss gesund werden! Lazarus darf nicht sterben! Jesus, wo bist Du? Jesus, beeil Dich!

Zurück nach Deutschland: Ein hoher Beamter tritt zurück, der Leiter des Bundesamts für Flüchtlinge und Migration. Gerade jetzt, wo täglich tausende kommen. Es geht nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, es geht vielen persönlich an die Grenze, wie es bei den Flüchtlingen selbst an die Grenze geht: Kein Weiterkommen, Stacheldraht, das Meer, Gesetze, kein Geld. Jetzt braucht es die richtigen Leute, Besonnenheit, Glauben, Vertrauen, Gottvertrauen, Mut, Entschlossenheit, Unerschrockenheit. Und Lazarus ist krank.

Der hätte doch Entlastung bringen können, der hatte doch immer Ideen und eine große Zuversicht, dem war nicht schnell etwas zu viel, der hatte gute Kontakte und einen starken Rückhalt in seinem Dorf Bethanien. Lazarus, den kannten alle, und als er tot war, wussten es in Windeseile alle: Lazarus ist gestorben. Welch ein Schock! Welch ein Schmerz! Was soll nun werden?

Und es kamen viele zu Marta und Maria, sie zu trösten wegen ihres Bruders. – „Es tut mir so leid!“ – „Wer soll diese Lücke ausfüllen?“ – „Der wird noch lange fehlen?“ – „Warum gerade er?“

Jesus kommt. Marta sagt: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Vielleicht sagt sie auch: „Er hat so sehr auf Dich gewartet!“ Vielleicht sagt sie: „Jesus, geh nicht weg! Wir schaffen es nicht!“ Marta trauert und stellt Fragen. Marta trauert um Lazarus. Aber sie sagt etwas, sie redet, sie ist noch nicht verstummt.

Jesus sagt: „Dein Bruder wird auferstehen!“ Für Marta ist das ein schwacher Trost, kein starker Trost. Für alle, die so etwas hören, ist es ein schwacher Trost, kein starker Trost. Was nützt es denen, die jetzt Lazarus vermissen, dass er auferstehen wird irgendwann, irgendwo, irgendwie? Es klingt müde, was Marta antwortet: „Ich weiß wohl dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.“ Oder ist das nicht nur müde, sondern schon trotzig, ärgerlich?

Jetzt, wo Jesus nach Lazarus fragt und Marta als Frau vor ihm steht, jetzt scheint alles, was ungelöst ist, was die Kräfte aufbraucht, was die Fragen nicht beantwortet, im Hintergrund. Für diesen einen Moment scheint es alles im Hintergrund zu sein; aber es ist nur im Hintergrund. Es nicht weit weg, dass Lazarus fehlt, dass er an allen Ecken und Enden fehlt.

Da helfen die theologischen Ausflüchte nicht: „Du musst jetzt ganz fest glauben“ oder „Alles wird gut!“ „Wir werden ihn nie vergessen!“ „Er wird in unseren Herzen leben.“ Schwacher Trost ist nicht gefragt. Billiger Trost hilft nicht weiter. Und Jesus sagt auf den Satz von Marta, „Herr, ich weiß“ den Satz, der mit „Ich“ beginnt, mit „Ich bin“, den Satz, mit dem er sich ganz weit hinaus wagt, sagt: „Ich verkörpere das!“ „Die Auferstehung, Marta, das bin ich!

Und damit dieses Wort so verstanden wir, wie es gemeint ist, wird erzählt wie Jesus geweint hat um seinen Freund, wie ihm die Augen übergegangen sind und ihn das nicht unberührt gelassesn hat und wie er Lazarus vom Tod erweckt in dieses Leben und nicht ins Jenseits, in diese Welt und nicht in eine andere Welt. Jesus sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben!“ Und er sagt nicht: Ich bin die Auferstehung am jüngsten Tag. Und wer da lebt und glaubt an mich, er wird anderswo und anders weiterleben… Das „anderswo“ und „anders“ sagt er nicht, aber er sagt: wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst Du das?“ Zu viel für Marta, zu viel für uns. Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Lazarus war krank. Lazarus war am Ende. Lazarus war tot. Lazarus hatten sie schon begraben. Von Lazarus hatten sie Abschied genommen und sich in das Unabänderliche geschickt. Von Lazarus hatten sie erzählt, dass es nun auch schon vier Tage her ist und dass das Leben weitergehen muss, trotz der Lücke und irgendwie. – Jesus ist mit diesem Tod nicht einverstanden. Jesus schickt sich nicht ins Unabänderliche, nicht einmal in den Tod, sondern geht hin und ruft ihn zurück ins Leben und er will uns zurück ins Leben rufen. Er will die zurück ins Leben holen, die fertig sind, vollkommen fertig, fix und fertig, die an ihn geglaubt haben, und nicht mehr können. Er will sie nicht tot, will sie nicht tatenlos, nicht sprachlos, nicht reglos und bewegungslos, nicht gedankenlos, nicht glaubenslos, nicht hoffnungslos, nicht freudlos, nicht lieblos, will sie nicht im Grab, will sie mitnehmen in die Auferstehung – jetzt, mitnehmen ins Leben. Nicht später, sondern jetzt!

Diese Geschichte endet unglaublich: „Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“

Unglaublich, damit alle die das lesen, alle, die diese Geschichte hören, alle, die sich vielleicht in dieser Geschichte wiederfinden, bereit sind, das Unglaubliche zu glauben,

das Unglaubliche, dass es eine Auferstehung ins Leben gibt trotz Krankheit, trotz Kraftlosigkeit, trotz dem, was hoffnungslos erscheint, aussichtslos, wenn nicht ein Wunder geschieht. – Das Unglaubliche glauben! Nicht, weil es spektakulär ist oder der Beweis, dass man Recht gehabt hat. Nur nicht, dass man noch seinen Glauben vor sich herträgt! Sondern das Unglaubliche glauben, dass es in all unserem Siechtum in all unserem Unterliegen, in all unserer Neigung zur Resignation eine Auferstehung ins Leben gibt, selbst dann, wenn schon alles zu spät ist. Für Gott, für Jesus scheint es ein „zu spät“ nicht zu geben, auch nicht, wenn’s vier Tage, wenn’s lange gedauert hat.

 

Herr Jesus Christus,
nimm uns mit ins Leben,
uns einzelne, uns alle miteinander,
unsere Kirchengemeinden und unsere Kirchengemeinde, unsere ganze Kirche.
Lass nicht zu, dass alles langsam verwest und zerfällt.
Lass auch nicht zu,
dass das gepflegt wird, was kein Leben hat.
Gib neu Deinen Geist, Deine Kraft in unsre müden Glieder! Erweck uns zu neu. Wir bitten Dich! Amen.

Sorgt nicht um Euer Leben! ?

Predigttext 15. Sonntag nach Trinitatis:
Matthäus 6,25-34 (Zürcher Bibel)

Von falscher und echter Sorge
25 Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen werdet, noch um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26 Schaut auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen – euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als sie?
27 Wer von euch vermag durch Sorgen seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzuzufügen?
28 Und was sorgt ihr euch um die Kleidung? Lernt von den Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht,
29 ich sage euch aber: Selbst Salomo in all seiner Pracht war nicht gekleidet wie eine von ihnen.
30 Wenn Gott aber das Gras des Feldes, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen!
31 Sorgt euch also nicht und sagt nicht: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? Oder: Was werden wir anziehen?
32 Denn um all das kümmern sich die Heiden. Euer himmlischer Vater weiss nämlich, dass ihr das alles braucht.
33 Trachtet vielmehr zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden.
34 Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.

16459340358_660a10684c_oaLiebe Gemeinde,
diese Anemonen auf den Gottesdienstprogrammen haben es mir angetan.  Im Februar habe ich sie entdeckt in der Wüste Juda, nahe bei Jerusalem, als es geregnet hatte und die Wüste auf einmal grün und gelb und rot und blau war. – Also nicht „die Lilien“ wie in diesem Predigttext aus der Bergpredigt, sondern die Anemonen… und natürlich auch die Vögel unter dem Himmel!  Es will so gar nicht zu den Flüchtlingsbildern und Flüchtlingsgeschichten passen, die uns derzeit bedrängen. Es will so gar nicht zu den Sorgen passen, die sie auf ihre Flucht getrieben haben und nicht zu den Sorgen, die man sich in Deutschland nun macht: werden wir es schaffen, wenn täglich Tausende dazukommen?
Aber freilich, da ist nach wie vor viel Mitgefühl und viel Hilfsbereitschaft und viel Engagement, und es ist für die Betroffenen ein Aufatmen, wenn man irgendwo gesagt bekommt: nun bleib erst mal hier. Ich glaube, wir sollen es wagen, dass wir uns drauf einlassen und um Gottes Beistand bitten.
„Sorget nicht um euer Leben“ könnte man ja auch anders betonen und sagen: „Sorget nicht um euer Leben“, wie wir es ja auch schon oft gehört und erlebt haben, dass jemand sagt: ich mach mir keine Sorgen um mich, aber um…
…den Ehepartner, die Mutter, den Vater, den Sohn, die Tochter…
„Ich mach mir keine Sorgen um mich, wenn’s nur dem oder der besser ginge, um den / um die ich mir Sorgen mache…“
Und nun scheint sich das Blatt zu wenden, dass wir uns angesichts der Flüchtlinge Sorgen machen um uns selbst und befürchten: wir schaffen das nicht, wenn immer mehr Leute nach Deutschland kommen und hier einen Platz möchten, und der Platz wird knapp, die Hallen füllen sich, sind schon voll und es kommen immer mehr. Und Gott sei Dank gibt es Menschen, die jetzt gerade nicht fragen: „Was werden wir essen, was werden wir trinken, was werden wir anziehen?“ Die aber fragen: „Was werden diese Flüchtlinge essen, was werden sie trinken, was werden sie anziehen?“
Hier in der Kirche sind wir ja nun nicht in einer Talkshow und auch nicht in einem Parlament, wo um Meinungen und Argumente gestritten wird, sondern in einem Gottesdienst und dürfen, ja müssen fragen: „Gott, was sollen wir tun?“ „Gott, wie sollen wir handeln?“ „Gott, was möchtest Du segnen?“ „Gott, was möchtest Du gut heißen?“

Das erste, was wir als Antwort auf diese Fragen erahnen, ist vielleicht, dass wir uns auf etwas Neues einstellen müssen, auf etwas, wovor wir bisher verschont waren; nämlich, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass auch unser Leben eine Spur ungewisser wird als die letzten fünfzig Jahre, dass weniger von allem selbstverständlich ist, mehr von allem infrage gestellt. Und dass wir deswegen nicht in Panik ausbrechen, sondern dabei bleiben: euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht.
Wir haben es heute auch deshalb gut, weil unsere Eltern den Wunsch gehabt haben, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Davon profitieren wir in Deutschlande. Es ist auch ein sehr berechtigter Wunsch vieler anderer Eltern auf dieser Welt, dass es ihren Kindern eines Tages besser geht.

Was ist das, besser?

Das Materielle allein wird nicht ausreichen, die „irdischen Güter“, von denen das Leitthema dieses Sonntag spricht.
Das bessere Leben ist kein gutes Leben, wenn es nicht mehr als nur materiellen Wohlstand beinhaltet. Das bessere Leben, das sich Flüchtlinge wünschen, ein Leben in Sicherheit und ohne Angst, wird erst ein gutes Leben sein, wenn es Anteil hat, wie es in der Bergpredigt heißt, am „Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“, wenn da mehr ist als ein Auto, ein Fernseher und ein Smartphone, wenn da Gemeinschaft ist, soziale Teilhabe, wenn ein Sinn ins Leben kommt statt Langeweile, eine Aufgabe, eine Berufung, ein Wissen, wozu man da ist und ein neues Vertrauen.
Wenn Flüchtlinge bemerken könnten, dass da ein Deutschland ist, das nicht nur reich und wirtschaftlich stark ist, sondern dass es in diesem Land Menschen gibt, die aus ehrlichem und tiefem Gottvertrauen heraus handeln, wenn das zu spüren wäre, dass es hier Menschen gibt, die hilfsbereit sind, weil sie davon zehren, dass es heißt: „euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles bedürft“, dann hat sich der weite Weg vielleicht wirklich gelohnt. Wenn Menschen nicht auf Ablehnung, sondern auf Annahme stoßen und nicht auf Misstrauen, sondern auf Menschen, die den Blick zum Himmel richten und doch mit beiden Füßen auf dem Boden stehen, dann könnte den Flüchtlingen und uns, die wir von Flucht verschont sind, ein Neuanfang geschenkt sein.
Sorget nicht um Euer Leben…“ heißt nicht, dass wir das alles nicht so furchtbar ernst nehmen sollen, sondern dass wir es sehr ernst nehmen und deshalb beten, Bitte für Bitte:

Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name,
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden,
unser tägliches Brot gib uns heute und
vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern und
führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns von dem Bösen.

„So sollt ihr beten“, sagt Jesus, und handeln als Menschen, die auf Antwort warten. Amen.